Die Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, in denen jeweils eine rot-rote Koalition bestand, weisen neben einigen Unterschieden viele Gemeinsamkeiten auf. Zu den Unterschieden gehört das Ergebnis für die SPD. In Mecklenburg-Vorpommern büßte sie 10,4 Punkte ein, in Berlin legte sie 1,1 Punkte zu. Der wesentliche Grund liegt auf der Hand. In Mecklenburg-Vorpommern gelang es dem dortigen sozialdemokratischen Regierungschef Harald Ringstorff nicht, den Unmut eines großen Teils der Bevölkerung über die Politik der Bundes- wie der Landesregierung zu kompensieren - im Gegensatz zu seinem Berliner Pendant Klaus Wowereit, der dank seines Charismas die Berliner mehr überzeugte, als dies seine Partei konnte.
Auch das Wahlergebnis für die Linkspartei scheint Diskontinuität zu spiegeln. In Berlin verlor die Partei 9,2 Punkte, in Mecklenburg-Vorpommern gewann sie 0,4. Doch diese Zahlen verdecken erstaunliche Gemeinsamkeiten. Denn die PDS hatte ihr sensationelles Resultat von 22,6 Prozent 2001 unter ihrem Spitzenkandidaten Gregor Gysi auf dem Höhepunkt der Berliner Bankenaffäre aus der Opposition erreicht, während die PDS bei der Landtagswahl 2002 in Mecklenburg-Vorpommern, am Tage der Bundestagswahl, als Regierungspartei antrat. Dies war ebenso ein Nachteil wie der Wahlkampf im Bund. Die massive Absage an einen Einsatz der Bundeswehr in einem Irak-Krieg durch Kanzler Schröder schadete der PDS ebenso wie die Hilfsbereitschaft während der Flutkatastrophe. Die PDS, die oft die Unterschiede zwischen Ost und West kultiviert hatte, bekam die Quittung und verlor acht Prozentpunkte. Der jetzige minimale Gewinn der Partei ist daher im Grunde eine Niederlage. Wie auch immer: Regierungsbeteiligung zahlt sich für die Linkspartei nicht aus.
Da die Landtagswahlen im Wesentlichen bundespolitisch geprägt waren, gab es zahlreiche Gemeinsamkeiten. Die CDU verlor in beiden Bundesländern, obwohl dort Oppositionspartei, rund 2,5 Punkte. Damit erreichte sie in Berlin das schlechteste Ergebnis, seit es dort Wahlen zum Abgeordnetenhaus gibt und in Mecklenburg-Vorpommern das schwächste Ergebnis seit der deutschen Einheit. Ein Kanzlerin-Bonus war nicht zu spüren. Die Erfolge der Liberalen im Norden, wahrlich nicht ihr Stammland (sie verdoppelten ihren Stimmenanteil auf 9,6 Prozent) sind noch stärker bundespolitisch erklärbar als die Zugewinne der Grünen in Berlin um vier auf 13,1 Punkte.
Schwindende Parteienidentifikation
Die rechtsextremistische NPD, die selbst ernannte "Opposition zum System", war im Bundesland mit der höchsten Arbeitslosigkeit in einer komfortablen Position: im Bund eine Große und im Land eine rot-rote Koalition. Die Partei gab sich sozialpopulistisch, weniger ausländerfeindlich. In Mecklenburg-Vorpommern waren die Angebotsstrukturen für die NPD besonders günstig: Perspektivlosigkeit vor allem vieler junger Männer, Verödung ganzer Landstriche, sich fortsetzende Entbürgerlichung der Gesellschaft, gering ausgeprägtes Vereinsleben im vorpolitischen Raum. Ihr Erfolg ist zum einen eine Erblast des "realen Sozialismus", zum anderen eine Reaktion auf die schwierigen Transformationsprobleme. Die demokratischen Parteien müssen sich mit der demokratisch gewählten, aber nicht demokratischen NPD inhaltlich auseinandersetzen. Geschäftsordnungstricks verbieten sich. Sie haben die Aufgabe, die Wähler durch eine überzeugende Politik zurück zu gewinnen. Eine konservative demokratische Partei braucht einen starken rechten Flügel, eine linke demokratische Partei einen starken linken. Die Krise der Volksparteien, die wir gegenwärtig erleben, hat auch mit ihrer Profillosigkeit zu tun. In Berlin erzielten SPD und CDU zusammen nur 52,1 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 59,0 Prozent. In beiden Ländern zogen fünf Parteien ins Parlament ein, in Berlin erreichten die "sonstigen Parteien" (ohne Linkspartei, FDP und Grüne) ganze 13,8 Prozent.
Hatten die beiden großen Parteien bei den Landtagswahlen 2004 in Sachsen mit 50,9 und in Brandenburg mit 51,3 Prozent der Stimmen nur gut die Hälfte der Wähler erreicht, so wurde dies vielfach mit spezifischen landespolitischen Gegebenheiten im Osten Deutschlands erklärt - ungefestigte Parteistrukturen, fehlende Wählerbindung, Parteienverdruss angesichts von Hartz IV. Doch die Tendenzen lassen sich wohl verallgemeinern. Bei der Bundestagswahl 2005 bekamen die beiden Volksparteien, die jeweils deutlich verloren hatten, bundesweit keine 70 Prozent der Stimmen mehr - bei einer Wahlbeteiligung von unter 80 Prozent). Ihre Bindekraft und Integrationsfähigkeit lässt beträchtlich nach. 2002 und in den 90er-Jahren war der Anteil der beiden Parteien ebenfalls gefallen, wenngleich nicht so deutlich. Bei den Wahlen von 1990 an, also mit der deutschen Einheit, hatten die beiden großen Parteien einen Anteil zwischen 76,0 und 77,9 Prozent erzielt. Er lag damit nicht mehr über 80 Prozent - wie bei den drei Wahlen in den 80er-Jahren. 1972 und 1976 erzielten die Volksparteien mehr als 90 Prozent - bei einer Wahlbeteiligung von mehr als 90 Prozent! In den 60er-Jahren war der Anteil für die beiden Volksparteien auch höher als 80 Prozent, ebenso 1957 - 1953: 74,0 Prozent. Nur bei der ersten Bundestagswahl, die noch Züge des Weimarer Parteiensystems trug, erhielten die beiden großen Parteien lediglich 60,2 Prozent der Stimmen. Diese Verluste gehen mit schwindender Parteiidentifikation, gesunkener Wahlbeteiligung und massiven Mitgliederrückgängen einher. Hatte die SPD Ende 1990 noch 943.402 Mitglieder, so waren es Ende 2005 lediglich noch 590.485.
Die Antwort auf die Frage, ob Parteien, die rund 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, noch als Volksparteien gelten können, hängt entscheidend von der Definition des Begriffs "Volkspartei" ab. Manche Parteien hatten bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik diesen Terminus in ihrem Namen, ohne dass es sich um Volksparteien im heutigen Sinn handelte. Nach 1945 setzte sich allmählich der Typus der Volkspartei durch. Er dürfte durch drei Charakteristika bestimmt sein: erstens durch eine beträchtliche Wählerschaft; zweitens durch eine Programmatik, die aufgrund des Elektorats, das sich aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammensetzt, breit gefächert ist; drittens durch die Akzeptanz demokratischer Prinzipien.
Die SPD war zu Beginn der ersten deutschen Demokratie zwar von fast 40 Prozent der Bevölkerung gewählt und demokratisch, aber die Programmatik zielte auf die Arbeiterschaft, den Wählerstamm der Partei; die NSDAP umfasste Anfang der 30er-Jahre eine große Wählerschaft, die sich aus den verschiedensten sozialen Schichten zusammensetzte, doch sie lehnte die demokratischen Prinzipien dezidiert ab. Die heutigen großen Parteien sind demokratisch orientiert und zeichnen sich durch eine breite Programmatik aus. Allerdings verlieren sie, wie gezeigt, zunehmend an Stimmen. Union und SPD werden, meinen Kritiker, immer weniger unterscheidbar. Die Erosion der konfessionellen und sozialen Milieus schreitet voran.
Diffuse Politik der Mitte
Deswegen muss das Konzept der Volkspartei nicht über Bord geworfen werden. Schließlich verdankt das "Modell Deutschland" seinen Erfolg unter anderem den Volksparteien, die jeglicher Ideologisierung entsagt und Pragmatismus gefördert haben. Vielleicht verlieren die großen Parteien gerade dadurch Wähler, dass die Union zu wenig "schwarz" und die SPD zu wenig "rot" ist. Jetzt scheinen ihnen die Wähler in Scharen wegzulaufen, weil die kleineren Parteien konkretere Programmpunkte verfechten. Eine diffuse Politik der Mitte überzeugt viele Bürger nicht mehr.
Die Volksparteien werden sich künftig vermutlich immer weniger auf spezifische Milieus stützen, sondern "kompetenzbasiert" (Everhard Holtmann) sein müssen. Allerdings lässt die den großen Parteien zugeschriebene Problemlösungskompetenz durch die Wähler nach. Sie haben zu beweisen, dass ihre Gestaltungskraft nicht erlahmt ist. Beherzigen die Volksparteien ihre Lektion und wollen sie das Vertrauen zurückgewinnen, so ist Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit gefordert. Sie dürfen ihre Wählerverluste nicht schönreden. Ein "Weiter so!" genügt nicht. Warum waren die großen Parteien am Wahlabend nicht in der Lage, ihr Desaster einzugestehen? Wer für die Mehrheitswahl optiert, will die Macht der Volksparteien ins-titutionell absichern. Viele Bürger sähen dies als Manipulationen - unabhängig davon, ob ein neues Wahlsystem dem alten überlegen wäre.
Die Tatsache, dass der Stimmenanteil der großen Parteien - wie immer man sie bezeichnet - sich künftig auf etwa 30 Prozent einpendeln könnte, hat strategische Konsequenzen. Zweierbündnisse dürfen weniger vorkommen, da große Koalitionen nicht dem Musterfall einer parlamentarischen Demokratie entsprechen und Minderheitsregierungen in Deutschland keineswegs akzeptiert sind. Bei Dreierbündnissen, die den Nachteil haben, dass sich die beiden kleineren Partner gegenüber der Hauptregierungspartei über Gebühr profilieren, bieten sich gegenwärtig drei Varianten an: eine "schwarze" Ampel-Koalition (CDU/CSU, FDP und Grüne); eine Ampel-Koalition (SPD, FDP und Grüne); eine linke Koalition (SPD, Grüne, Linkspartei). Bisher hat es nur zwei - wenig erfolgreiche - Ampel-Koalitionen in den Ländern gegeben - Bremen und Brandenburg. Was heute undenkbar sein mag, kann schon morgen Wirklichkeit werden. Die Diskussion nach der Bundestagswahl 2005 bot einen Vorgeschmack auf das, was uns wohl erwartet.
Allerdings ist die Durchsetzungskraft von Dreierbündnissen keineswegs sicher. Erstens sind Momentaufnahmen - eine Große Koalition im Bund führt bekanntlich zu Verlusten der Union und der SPD - nicht zu verabsolutieren, mögen die großen Parteien doch eine Revitalisierung erfahren. Zweitens muss das gegenwärtige Fünf-Parteien-System nicht "festgeschrieben" sein. Liberale, Grüne und Linkspartei haben große Herausforderungen zu meistern: Ihre Stammwählerschaft liegt keineswegs über fünf Prozent; drittens ist die Zunahme großer Koalitionen möglich. Wie die Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern gezeigt haben, sinkt durch die Verluste für die großen Parteien die Zahl der Koalitionsoptionen nicht, sondern steigt. Das deutsche Parteiensystem ist im Wandel, die Zukunft offener denn je. Auch die Zukunft der Volksparteien ist ungewiss.