Selten ging eine parlamentarische Sensation so geräuschlos über die Bühne: Mit der Vereinbarung zwischen dem Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union (16/2620) erhält das Parlament in Zukunft deutlich mehr Rechte gegenüber der Exekutive - und das mit einmütiger Zustimmung der Regierung. Ohne Gegenstimme nahmen die Vertreter aller Fraktionen den gemeinsamen Antrag am 22. September an. Wir haben die "parlamentsfreundlichste Regelung überhaupt", sagte der Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze (CDU/CSU) in der Aussprache. Und auch die Fraktionen waren voll des Lobes. Dabei ist nach Meinung der meisten Abgeordneten ein Übereinkommen für eine bessere Information und für mehr Mitwirkungsrechte des Bundestages in Europafragen längst überfällig.
Mehr als 4.000 Dokumente werden dem Bundestag jährlich von der Bundesregierung zugeleitet. Sie alle müssen bewertet und zum Teil in nationales Recht umgesetzt werden. Die einstige europäische Außenpolitik ist so - spätestens seit dem Vertrag von Maastricht - auch immer mehr nationale Innenpolitik. Vielen Parlamentariern war daher schon längst ein Dorn im Auge, dass sie oft zu spät über geplante Entscheidungen aus Brüssel informiert wurden. Außerdem standen ihnen kaum Instrumente zur Verfügung, um Europäische Initiativen und Rechtsetzungsakte mitzugestalten. Im Zuge der Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrags hatte der Bundestag 2005 mehr Mitwirkungsrechte eingefordert. Denn Artikel 23 des Grundgesetzes sieht vor, dass Bundestag und Bundesrat umfassend von der Regierung informiert werden müssen. Die 1993 getroffene Bund-Länder-Vereinbarung gab dem Bundesrat jedoch weit mehr Rechte als sie der Bundestag besaß. Mit der Vereinbarung, die das Bundeskabinett am 19. Juli 2006 billigte, muss die Bundesregierung das Parlament jetzt sehr viel früher und ausführlicher als bisher informieren. Stellungnahmen des Parlaments muss die Regierung bei ihren Verhandlungen jetzt nicht mehr nur "berücksichtigen", sondern, so wörtlich, "zur Grundlage" machen und gegebenenfalls sogar einen Parlamentsvorbehalt einlegen. Auch wenn im Europäischen Rat künftig eine Entscheidung von der Einstimmigkeit zur Mehrstimmigkeit erfolgen sollte, muss der Bundestag darüber informiert werden.
Wie bereits vor ihm Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) im Europaausschuss, begrüßte auch Michael Roth (SPD), dass das Parlament jetzt "auf einer Augenhöhe mit dem Bundesrat" sei. Es könne damit seine Kontrollaufgababen deutlich besser wahrnehmen: "Parlamente sind kein Sahnehäubchen, sondern das Fundament unserer Demokratie", so Roth. Markus Löning (FDP) hob hervor, der Bundestag könne jetzt Themen, "zu einem Zeitpunkt, in dem sie noch beeinflussbar sind", angehen. Das Raumschiff Brüssel werde damit auf dem harten Boden der Realität landen. Sein Kollege Michael Stübgen (CDU/ CSU) hofft, dass mit der Vereinbarung neue Wege in der Europapolitik beschritten werden können. Gleichzeitig gab er jedoch zu bedenken: "Wir werden eine Informationsflut bekommen, die mir manchmal Angst macht."
Auch die Linksfraktion sieht in der Vereinbarung neue Chancen: "Wir müssen beim Thema Europa mehr direkte Demokratie wagen", sagte Alexander Ulrich auch mit Blick auf die Forderung nach einer Volksabstimmung über die auf Eis liegende EU-Verfassung. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen stellte mit Rainder Steenblock in der Debatte fünf konkrete Forderungen auf, darunter eine Europa-Fragestunde und eine spezielle Debatte über das jährliche Strategieprogramm der Europäischen Kommission. Für EU-Staatsminister Günter Gloser (SPD) ist die Vereinbarung ein guter Kompromiss: Er bezeichnete sie als "zentralen Baustein für die Europatauglichkeit des Bundestages", die aber der Bundesregierung den "nötigen Spielraum" in Brüssel biete.