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Seit das Lehrerkollegium der Rütli-Schule im Berliner Bezirk Neukölln in einem Brandbrief um Selbstauflösung bat, ist eine Debatte um Versäumnisse in der Integrationspolitik entbrannt, die weit über rein schulpolitische Probleme hinaus geht. Seither muss die Berliner Hauptschule als Beispiel herhalten für Perspektivlosigkeit, Resignation und gescheiterte Integration von Zuwanderern und ihren Kindern. Der Begriff von der „Restschule“ machte die Runde. Zuvor hatte die Debatte um die Einbürgerungstests Dissens darüber offenbart, welche die wichtigsten Voraussetzungen sind, um in Deutschland heimisch zu werden. Müssen Zuwanderer ihren Integrationswillen beweisen und was müssen Staat und Gesellschaft leisten, um Migranten eine Zukunft zu ermöglichen?
Wie so häufig, wenn über Zuwanderung und Integration debattiert wird, kommt schnell das Reizwort „Multikulturalismus“ ins Spiel: Der bayerische CSUMinisterpräsident Edmund Stoiber etwa erklärte jüngst die „blauäugige Multikulti-Gesellschaft“ für gescheitert. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) will nun Integrationswillen zur Voraussetzung für Einbürgerung machen: Bevor eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis ausgestellt werde, so Schäuble, müsse geprüft werden, ob ein Mensch die Voraussetzungen dafür schaffe, dass seine Kinder die Schule erfolgreich besuchen könnten. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) hingegen sprach sich gegen Sanktionen für Integrationsverweigerer aus und warnte davor, aus der Diskussion nach den Gewaltvorfällen in der Berliner Rütli-Schule eine Ausländerdebatte zu machen. Noch vor der Sommerpause will die Bundesregierung zu einem Integrationsgipfel rufen, als Auftakt zu mehreren Konferenzen.
Nach Angaben der Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration Maria Böhmer (CDU/CSU) soll es um fünf Themenblöcke gehen: Spracherwerb, berufliche Bildung und Arbeitsmarkt, Frauenrechte, rechtliche Regelungen von Zuwanderung und Integration sowie „Bürgergesellschaft“ als ein vertiefter Dialog der Kulturen.
Uneinheitliche Praxis
Indes wollen sich die Innenminister der Länder auf eine gemeinsame Linie bei den Anforderungen für Einbürgerungswillige verständigen. Seit der Neufassung des Staatsbürgerschaftsrechts vor sechs Jahren werden die Kriterien diskutiert und immer wieder modifiziert. Am 1. Januar 2000 trat das heute geltende Recht in Kraft, das sich statt am „Abstammungsprinzip“ stärker am „Bodenprinzip“ orientiert. Den „Wandel von der Abstammungszur Abstimmungsgesellschaft“ nannte das der Historiker Heinrich August Winkler damals. Voraussetzung für einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung war nun, dass jemand seit acht Jahren im Land lebt, für seinen Lebensunterhalt aufkommt, der deutschen Sprache mächtig ist und sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt. Bis dahin galt die achtjährige Frist zwar für Ausländer unter 23, ältere mussten 15 Jahre warten.
In den folgenden Jahren passierte, was im föderalen Deutschland mit Gesetzen häufig passiert: Es wurde umgesetzt, aber in jedem Land anders. Während Einbürgerungswillige in Bayern und Baden-Württemberg beim „Postkartentest“ fiktive deutsche Urlaubskarten verfassen müssen, wird in Niedersachsen ein Zeitungsartikel für den Sprachtest verwandt und in anderen Ländern lediglich ein kurzes Gespräch geführt. Noch unterschiedlicher wird das Bekenntnis zur freiheitlich- demokratischen Grundordnung gehandhabt. In Berlin reicht eine Unterschrift, in Sachsen muss ein Fragebogen zur Staatskunde ausgefüllt werden: Wie wird der Bundeskanzler gewählt und gibt es Bundesländer oder Kantone?
Seit Anfang 2006 sind weitere Testvarianten dazugekommen: In Baden-Württemberg müssen Ausländer – allerdings nur aus muslimischen Ländern – in einem Fragebogen ihre demokratische Gesinnung unter Beweis stellen, und Bayern will künftig nach der Einstellung zu verbotenen oder als extremistisch eingestuften Organisationen fragen. Hessen hat einen Fragebogen mit 100 Punkten vorgelegt – von der Frage nach drei deutschen Mittelgebirgen bis zum Erkennen der Rügener Kreidefelsen.
Der baden-württembergische und der hessische Vorstoß waren Auslöser für die Innenminister der Länder, einen gemeinsamen Weg zu suchen. Auch weil die Einbürgerungszahlen so weit auseinander liegen, obwohl es keine Einbürgerung als Berliner, Hesse oder Bayer gibt, sondern nur als Deutscher. Und weil von Bundesinnenminister Schäuble über Kanzlerin Angela Merkel bis in die SPD-Spitze Einigkeit herrscht, dass eine gemeinsame Praxis Sinn macht. Schäuble kündigte an, notfalls eine einheitliche Regelung per Bundesgesetz herstellen zu wollen.
Der Blick ins Ausland zeigt ein ähnlich uneinheitliches Bild wie derzeit in Deutschland: In den USA, wo jedes Jahr eine halbe Million Menschen eingebürgert werden, bekommt der Kandidat zehn aus hundert Fragen gestellt, die ein bunter Mix aus Geschichts-, Staatsrechts- und Gesinnungsfragen sind, und wird zusätzlich auf seine – vermeintliche – Verfassungstreue überprüft. In Australien sind zwar die Zulassungskriterien enorm streng, aber wer es ins Land schafft, wird nach zwei Jahren mit einem kurzen Gespräch eingebürgert. In Europa ist etwa Ire zu werden vergleichsweise einfach und nach fünf Jahren per „Loyalitätserklärung“ möglich. In Italien ist die Einbürgerung erst nach zehn Jahren machbar und bleibt Ermessenssache. In Schweden fragt ein Test Bräuche und Kultur ab; in Spanien werden Interviews geführt, die ganz kurz, aber auch ganz lang sein können.
Unattraktive Einbürgerung
Welche Einbürgerungspraxis zu guten Integrationsergebnissen führt, ist statistisch nicht nachgewiesen. Viele Experten sind aber der Meinung, dass Einbürgerung an sich ein wünschenswerter und noch zu selten vollzogener Schritt ist. Denn Einbürgerung habe auch etwas damit zu tun, sagt der Migrationsforscher Dieter Oberndörfer, „dass Zuwanderer sich mit Deutschland identifizieren und ihre Leistungen anerkannt fühlen.“ Das geschehe aber nicht, wenn man signalisiere, wer Deutscher werden wolle, solle erst einmal Geschichte und Verfassungsrecht studieren. Auch der Berliner Bevölkerungsforscher Reiner Münz, der seit Jahren dafür plädiert, die Notwendigkeit von Zuwanderung anzuerkennen, sagt, es sei „immer auch eine Frage des gesellschaftlichen Klimas“, ob Menschen kämen. Und das Zentrum für Türkeistudien in Essen, Gradmesser deutsch-türkischer Befindlichkeiten, warnt, wer sich pauschal verdächtigt fühle, lasse sich auch ungern einbürgern. Das Institut registriert seit Jahren einen steten Rückzug in die eigene Gruppe – von deutschen Innenpolitikern auch „Parallelgesellschaft“ genannt – und führt das nicht zuletzt auf die nach dem 11. September 2001 gestiegene Skepsis gegenüber Muslimen zurück.
Tatsächlich will immer noch nur eine Minderheit deutsch werden. Zwei Drittel der 6,7 Millionen Ausländer leben acht Jahre oder länger in Deutschland und erfüllen die für eine Einbürgerung notwendige Aufenthaltsdauer. Ein Drittel wohnt sogar schon länger als 20 Jahre in Deutschland. Jeder Fünfte ist hier geboren. Jeder Vierte und damit mit Abstand die meisten sind Türken. Einwanderer stellen einen immer größeren Teil der Gesellschaft. Und zwar nicht, weil immer mehr Ausländer nach Deutschland kommen – tatsächlich sind es immer weniger, 2005 wurde bei Asylbewerbern wie Aussiedlern ein historischer Tiefststand verzeichnet – sondern weil sie im Gegensatz zu den Deutschen Kinder bekommen: Nach Schätzungen wird im Jahre 2010 die Hälfte der Menschen, die in Großstädten leben, einen Migrationshintergrund haben.
Zwar ist die städtische Bevölkerung, wie auch eine Studie des Bundesinnenministeriums belegt, integrationsfreudiger als die im ländlichen Raum. Aber unabhängig vom Lebensumfeld gibt es Faktoren, die die Erfahrung von Dazugehörigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe begrenzen. Wer Ausländer ist und nicht aus der EU stammt, hat nicht die Möglichkeit, durch seine Stimme bei Kommunalwahlen die Umgebung, in der er lebt, mitzugestalten. Fest steht auch, dass die gleichberechtigte Partizipation an den Ressourcen der Gesellschaft für Ausländer in weiter Ferne liegt: Mit gut 20 Prozent ist die Arbeitslosenquote unter Ausländern doppelt so hoch wie unter Deutschen; ihr Einkommen, so sie eines haben, ist zehn bis 20 Prozent niedriger. Beides liegt nicht zuletzt an der Bildungssituation: Jeder fünfte ausländische Jugendliche verlässt die Schule ohne Abschluss. Dass die Integration von Kindern nichtdeutscher Herkunft in das deutsche Bildungssystem auch in zweiter oder dritter Generation höchst defizitär ist, weiß man in aller Deutlichkeit nicht erst seit den jüngsten Alarmmeldungen über Problemschulen, an denen Gewalt und Perspektivlosigkeit herrschen, sondern allerspätestens seit den Schulstudien Iglu und Pisa.
Vor nunmehr sechs Jahren galt die unter der rot-grünen Regierung gestartete Greencard-Initiative als Symbol für den Wandel Deutschlands zur Einwanderungsgesellschaft. Sie richtete sich freilich an eine Zielgruppe, die jedes Land gern aufnimmt: Hoch- und Höchstqualifizierte, die sich nicht selten ohnehin aussuchen können, wo sie gern leben möchten.
Die Greencard wurde eingeführt und zum 1. Januar 2005 durch Neuregelungen des Zuwanderungsgesetzes abgelöst. Auch das wirbt um Hochqualifizierte – vorausgesetzt, sie verdienen mehr als 84.000 Euro im Jahr. Dem Ruf der Bundesrepublik folgen die Umworbenen aber nur zögerlich: 1.000 dieser Gutverdiener kamen 2005; 2004 waren es immerhin noch 2.300. Wie viele bleiben, wird sich zeigen. Statistisch nämlich, darüber wird allerdings selten geredet, reisen Ausländer nicht nur ein, sondern auch aus. 27 Millionen sind in den vergangenen 50 Jahren nach Deutschland gekommen. Zwanzig Millionen sind wieder gegangen.
Text: Jeannette Goddar
Erschienen am 8. Mai 2006
Stellungnahmen:
Statistik und Fakten:
Beauftragte der Bundesregierung für
Migration, Flüchtlinge und Integration
Webseite:
www.integrationsbeauftragte.de
Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge
Webseite:
www.bamf.de