Ein Kontinent zwischen Demokratisierung und Staatszerfall
Leider war während des Kalten Krieges niemand ernsthaft gewillt, die demokratischen Strukturen der Unabhängigkeitsphase zu verteidigen. Bündnistreue stand auf beiden Seiten im Ost-West-Konflikt zuoberst. Die Strukturschwächen der neuen Staaten, die schon auf die Schwäche vorkolonialer, erst recht kolonialer Zeit zurückgingen, verschärften sich. Die in Eile gezimmerten nachkolonialen Staaten konnten immer weniger ihre elementaren Aufgaben erfüllen. Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes gab es einen zunächst viel versprechenden Wind des demo-kratischen Wandels. Der Westen beging allerdings nach 1993 während der Ära Clinton wieder einen demokratischen Sündenfall und paktierte vor allem in Zentralafrika erneut mit Militärherrschern, denen man zynischerweise den Ehrentitel "Neue Führer Afrikas" zuerkannte. Chaos war die Folge. Doch die Verhältnisse können sich nur bessern, wenn der demokratische Wind wieder zu wehen beginnt. Es gibt Anzeichen dafür.
Afrika hatte große vorkoloniale Staatstraditionen. Ghana, Mali, Kongo und Simbabwe stehen für historische Großstaaten. Aus bisher nicht schlüssig erklärten Gründen hatten diese Staatsgebilde ihren Zenit überschritten, als der Sklavenhandel im 16. Jahrhundert in Schwung kam und Afrika über Jahrhunderte keine Chance zu positiver Staatsbildung hatte. Es geriet in Isolation und nahm nicht mehr an den technologischen Entwicklungen der übrigen Welt teil. Afrika konnte sich auch nicht an der Welterkundung durch die moderne Seefahrt beteiligen.
Als Mitte des 19. Jahrhunderts der Sklavenhandel abzuflauen begann, ergaben sich wieder Möglichkeiten für neue Staatsbildungen. Aber der Kulminationspunkt des Kolonialzeitalters nach der Berliner Kongo-Konferenz 1884/1885 mit der Aufteilung Schwarzafrikas in europäische Einflusszonen vereitelte diese Versuche. Hier machte sich spektakulär die zentrale Folge der langen Abkopplung bemerkbar: Afrika hatte der modernen Waffenentwicklung, ganz besonders den ersten Maschinengewehren, nichts entgegenzusetzen. Der waffentechnische Rückstand ist auch Folge der Tatsache, dass das sub-saharische Afrika nicht an der sich weltweit ausbreitenden Entwicklung hin zu formalisierter Schuldbildung teilgenommen hatte.
Die nachkoloniale Staatenbildung kam überra-schend. Vor dem Zweiten Weltkrieg ging niemand davon aus, dass in absehbarer Zeit die Kolonialmächte unter dem Einfluss des amerikanischen Präsidenten Roosevelt (Atlantik-Charta) gezwungen sein würden, diese "Spielzeuge nationalen Stolzes" aufzugeben.
Als 1963 die Organisation für Afrikanische Einheit gegründet wurde, handelte es sich noch um einen Zusammenschluss demokratischer Staaten. Kurz danach begann der "Afrikanische Umsturzkalender" (Ansprenger). Militärregierungen und - häufig in Kombination - Einparteienregimes konnten sich einige Jahre lang mit Billigung ihrer westlichen oder östlichen Schutzmächte als "Entwicklungsdiktaturen" mit dem Ziel verkaufen, den damals häufig als Haupthindernis für die Entwicklung angesehenen Tribalismus zu überwinden. Die Herrschaft der Ethnien wurde so keineswegs überwunden, da zumeist eine von ihnen die Machtbasis in Militär und Partei monopolisierte. Diejenigen, die dies aussprachen, wurden zu Staatsfeinden erklärt. Zur Stimulierung von wirtschaftlicher Entwicklung taugten sie ebenfalls nicht. Die Entwicklungsdiktatoren, manche von ihnen rechte Horrorfiguren, glaubten, in der Tradition afrikanischer Chefs über das nationale Erbe (französisch: patrimoine) verfügen zu können und, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, sich den nationalen Reichtum ihrer Länder "unter den Nagel reißen" zu dürfen. Die Afrikanisten begannen vom neo-patrimonialen Staat zu sprechen. Die Völker blieben bis weit in die 80er-Jahre Statisten im Weltpoker.
Aber nicht nur die "bösen Buben" haben die afrikanische Staatskrise angeheizt. Es waren gerade "Lichtgestalten" der Unabhängigkeitszeit wie Julius Nyerere (Tansania) oder Kenneth Kaunda (Sambia), deren wirtschaftliche Unkenntnisse oder sozialistische Denkschemata den sinnvollen Umgang mit Wirtschaftsfragen verhinderten. Sie ruinierten ihre Länder mit der Prioritätensetzung: Umverteilung vor Wachstum. Sie verteilten Agrargüter, deren Preise künstlich klein gehalten wurden. Obwohl der politisch links stehende Franzose René Dumont schon 1962 ("L' Afrique est mal partie") auf diesen Geburtsfehler der neuen Staaten hinwies, ermunterten "progressive" Berater aus Ost und West die neuen Staatschefs zur Übernahme des in den Industriestaaten des Nordens damals gültigen Modells des Wohlfahrtsstaates zulasten des Agrarsektors und verhinderten die Bildung eines rationalen ökonomischen Grundverständnisses.
Wie im 19. Jahrhundert beim Ende des Sklavenhandels ergriff das subsaharische Afrika nach der Auflösung des Sowjetreiches die Gelegenheit beim Schopf, um die weltpolitischen Freiräume für mehr Selbstbestimmung zu nutzen. Eine spontane Demokratiebewegung entstand und konnte dort, wo man sie nicht behinderte, Erfolge erringen. Der Kampf um Menschenrechte war auf einmal nicht mehr das Privileg westlicher NGOs. Runde Tische und nationale Konferenzen wurden zur Regel, und mancher Dinosaurier der Macht musste wenigstens "getürkte Wahlen" zulassen, um sich den Anschein einer neuen Legitimitätsbasis zu verschaffen. Die Völker betraten wieder die politische Bühne.
Die demokratische Bewegung war erfolgreich, so-lange Frankreich und die angelsächsische Welt sie unterstützten. Die USA ließen keinen Zweifel, dass es nun mit der Apartheid zu Ende sei. Im März 1990 erklärte Außenminister James Baker dem alten "Kumpel" Mobutu persönlich, die Zeit amerikanischer Unterstützung für sein marodes Regime sei zu Ende. Auch Staatspräsident Francois Mitterrand erklärte im Juni vor dem franko-afrikanischen Gipfel in La Baule den Partnern, nur wenn sich ihre Staaten auf den demokratischen Weg begeben würden, könnten sie mit weiterer französischer Hilfe rechnen.
Dann kam 1993 - unilateral, ohne Konsultation Frankreichs - aus Washington ein anderes Signal. Mobutu und andere Militärherrscher wurden von der Clinton-Administration wieder gebraucht - aus Gründen, die bis heute nicht aus sicherer Quellenbasis erklärt werden können. Jedenfalls entstand mit Unterstützung aus Washington und London zwischen 1994 und 1997 um das islamistische Regime in Khartum herum ein Ring aus Militärregimen (Eritrea, Äthiopien, Uganda, Ruanda, Burundi, Kongo-Kinshasa sowie die Befreiungsbewegung SPLA im Süd-Sudan), die sich gegen Khartum instrumentalisieren ließen.
Insbesondere bei der Etablierung des Rebellenführers Kagamé in Ruanda nahm man mit Unterstützung des ugandischen Staatschefs Museveni im Sommer 1994 den - militärisch leicht verhinderbaren - Völkermord an der Tutsi-Bevölkerung in Kauf. Auch die Entscheidung, anstelle des demokratisch legitimierten Parteiführers Tshisekedi den Rebellenchef Laurent Kabila als Nachfolger des todkranken Mobutu im Mai 1997 mit amerikanisch-ugandisch-ruandisch-burundischer Hilfe an der Spitze seiner Kindersoldatenarmee in Kongo-Kinshasa militärisch an die Macht zu bringen, bewirkte den Völkermord an den Hutu-Flüchtlingen im Ost-Kongo und später einen regionalen Bürgerkrieg. Diese "starken Männer" erhielten von Außenministerin Madeleine Albright den Ehrentitel "Neue Generation afrikanischer Führer".
Eine Reihe der nach 1990 entstandenen demokrati-schen Parteien, die einer Anti-Khartum-Politik im Wege standen, wurden bekämpft und teilweise zerschlagen. Diese Politik wurde zum Fiasko. Ab Mai 1998 lieferten sich Eritrea und Äthiopien einen absurden Grenzkrieg. Anfang August 1998 ging auch Kabila "von der Fahne". Der Stellvertreter-Krieg gegen Khartum, zu dem Madeleine Albright im Dezember 1997 in Uganda öffentlich aufgerufen hatte, musste abgeblasen werden. Das Kongo-Chaos ist noch immer nicht beendet. Vielleicht erlauben die für 2005 vorgesehenen Wahlen ein wenig Hoffnung.
Während es einige Jahre lang bei westlichen Intellektuellen chic war, sich der amerikanisch-britischen Begeisterung für die "neuen Führer Afrikas", die zwangsläufig kein Interesse an demokratischem Wind haben konnten, anzuschließen und über die "Demokratieunfähigkeit" Afrikas zu schwadronieren, sind die Afrikaner dabei, den demokratischen Zug wieder zu besteigen. Sie haben gelernt, dass keine andere Staatsform Interessenausgleich zwischen sozialen - auch ethnischen - Gruppen und zugleich wirtschaftliche Entwicklung durch Entfaltung der Marktkräfte ermöglicht. Allen Globalisierungswarnungen zum Trotz führen die Väter der New Partnership for Africa's Development (NEPAD) seit Jahren einen Dialog mit dem "Weltwirtschaftsclub" der G8 und propagieren Stabilität durch demokratische Reformen. Auch die Afrikanische Union hat sich zum Ziel demokratischer Staatsordnungen bekannt - selbst wenn dies bei manchen Staatschefs noch immer ziemliche Lippenbekenntnisse sein mögen.
Auch Amerika scheint wieder den Wert der Demokratie für Afrika entdeckt zu haben. Diese Botschaft sollte die Reise von Präsident George W. Bush durch fünf Staaten vom 7. bis 12. Juli 2003 vermitteln. Die Berufung von Colin Powell zum ersten farbigen US-Außenminister hatte für das subsaharische Afrika positive Auswirkungen. Man möchte ihm gönnen, dass in seiner Amtszeit im Sudan der längste kriegerische Konflikt Afrikas beendet werden kann. Vorsichtig hat auch Bundeskanzler Gerhard Schröder während seiner Afrika-Reise im Januar 2004 eine demokratische Stabilitätsbotschaft übermittelt, bei der zum Schutz legitimer Regierungen auch eine Beteiligung deutscher Soldaten nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Das gesamte Afrika - sein nördlicher arabisch-islamischer Teil ausdrücklich eingeschlossen - hat, wenn es nicht wieder wie so oft in den letzten 500 Jahren für fremde Ziele instrumentalisiert wird, auf demokratischem Weg eine Chance, seine überkommenen Strukturdefizite zu überwinden und unter Mitarbeit von Bevölkerungen mit Schulbildung die beträchtlichen ökonomischen Potentiale zugunsten breiter Schichten auszuschöpfen. Der Zusammenbruch des Schulwesens in den 90er-Jahren ist vielleicht die schlimmste, aber überwindbare Auswirkung der "failing states". Eine demokratische Entwicklung wird auch den Frauen erlauben, sich mehr als bisher in die Staatenbildung einzubringen und den Trend zu stoppen, bei dem in fundamentalistisch orientierten Gebieten wie in Nord-Nigeria ihre schon in einem liberalen Islam erworbenen Rechte wieder eingeschränkt werden. Schwarzafrika hat genügend Potential, um seine gegenwärtigen Krisen mittel- bis langfristig zu überwinden.
Dabei gilt es, eine wachstumskonforme Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft zu etablieren. Plumpe Staatsfeindlichkeit hilft ebenso wenig wie kritiklose Gläubigkeit in die positiven Wirkungen staatlicher Globalplanung, die in Teilen der Weltbank noch immer propagiert wird. In den ärmsten Staaten macht es zudem keinen Sinn, dass die Weltbank weiterhin mit Darlehen aktiv wird, die die Überschuldung bewirkt haben.
Die mit großen Reichtümern versehenen Gebiete von Angola über Gabun und die beiden Kongo-Staaten bis Sudan könnten in Zusammenarbeit mit dem teilindustrialisierten Südafrika zu Wachstumslokomotiven werden, wenn der Rest der Welt eine solche Entwicklung nicht behindert. Auch wenn die Rallye Paris-Dakar die Wüste in die Wohnzimmer der Welt bringt, Afrika hat mehr zu bieten als Sand.
Dr. Helmut Strizek lebt in Berlin und forscht seit 1973 zu Afrika.