Die Aktualität der "Erinnerungen" von Hans Jonas
Jonas hatte in Freiburg und Heidelberg bei Husserl, Heidegger und Bultmann studiert, war mit Hannah Arendt befreundet, emigrierte 1933 über London nach Palästina, wo er als Mitglied in einer bewaffneten Untergrundorganisation zum militanten Zionisten wurde und 1945 mit den englischen Alliierten in Deutschland einmarschierte: "Nie wieder zurückzukehren, es sei denn als Soldat einer erobernden Armee", dieses Gelöbnis hatte er wahr gemacht.
Jonas emigrierte 1945 zunächst wieder nach Palästina, doch fasste er dort nicht dauerhaft Fuß, sondern lehrte ab 1949 in Montreal und Ottawa, um dann ab 1955 bis 1976 bis zu seiner Emeritierung an der New School for Social Research in New York zu wirken.
Die vorliegenden Erinnerungen entstanden aus langen Gesprächen mit Rachel Salamander, der Herausgeberin der "Literarischen Welt", und mit Christian Wiese von der Universität Erfurt. Im September 1989 konnte Rachel Salamander Jonas dazu bewegen, seine Lebensgeschichte zu erzählen, die sie dann auf 33 Tonbändern aufnahm. Entstanden ist das bewegende Zeitdokument eines Mannes, der sich zunächst mit der spätantiken Gnostik, einer dualistischen Religion der misslungenen und also rückgängig zu machenden Schöpfung beschäftigte, und der ein halbes Jahrhundert später mit seinem "Prinzip Verantwortung" den Entwurf einer Ethik für die technologische Zivilisation wagte, der ihn weit über die Fachkreise und über das akademische Leben hinaus prominent machte.
Der Ruhm kam spät, aber mit unvergleichlicher Wucht. Davor lag die Erarbeitung einer Philosophie des Organischen, die die Konsequenzen aus der Ablehnung des gnostischen Dualismus zog und sich vor allem gegen den modernen Nihilismus wandte. Eindrucksvoll sind in diesem Band auch die abgedruckten Lehrbriefe an seine Frau, die Jonas schrieb, als er in der Jewish Brigade Group der britischen Armee gegen Hitler kämpfte.
Wie seine enge Freundin Hannah Arendt war Jonas ein kämpferischer jüdischer Philosoph, der nicht nur mit der Feder gegen die totalitären Ideologien anging. Er hatte zwar 1928 bei Martin Heidegger promoviert, war dann aber lebenslang von dessen Neigung zum Nationalsozialismus bitter enttäuscht. Doch grenzt sich Jonas nicht nur von Heidegger, sondern auch von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung ab: Utopie täusche die Menschen über ihre Conditio humana, ihre Verletzlichkeit und Endlichkeit hinweg, so sein Diktum.
Das Prinzip Verantwortung traf den Nerv der Zeit, denn durch die Entzauberung der Welt mittels einer modernen Wissenschaft, die keinen Raum für die Ehrfurcht vor dem kosmischen Mysterium lasse, so Jonas, dominiere das darwinistische Prinzip, das zu einem metaphysischen Vakuum führte, dem die moderne philosophische Ethik nichts entgegenzusetzen habe. Jonas suchte dieses Vakuum durch seine Ethik der Ver-antwortung auszufüllen, mit dem er auf neue Verletzlichkeiten der Weltgesellschaft verwies.
Ein menschenfeindliches Universum im Zeichen von Heimatlosigkeit und Verlorenheit, diesen Bruch zwischen Mensch und Natur, suchte Jonas durch eine Naturphilosophie des Organischen zu überwinden. In seiner Leibhaftigkeit mit der Welt verflochten, soll der Mensch diese verantwortlich gestalten. Auf dieser Grundprämisse entwickelte Jonas die Verantwortung für die "Weiterwohnlichkeit" der Welt. War es früher die Religion, die mit dem Jüngsten Gericht drohte, so sind es für Jonas heute die "Neuen Globalen Fragen", die den Planeten bedrohen. Sein Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation verdichtet sich ganz im Sinne von Kant: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde."
Jonas kritisierte die utopische Ethik der Vervollkommnung des Menschen im Zeichen totalitärer Ideologien und plädierte stattdessen verantwortungsethisch im Sinne Max Webers. Seine tiefe Zuneigung zum Leben selbst steht als höherer Wert gegenüber jedem utopischen Entwurf. Doch warnte er vor Passivität und Fatalismus und plädierte für eine zukunftsorientierte Ethik, die die Möglichkeiten und Grenzen der technischen Kultur neu ausleuchten muss.
Jonas Erinnerungen sind mit Nachdruck zu empfehlen, weil sie auf lebendige Weise die Tiefe seines Denkens widerspiegeln, aber auch sein erzählerisches Talent deutlich machen. Jonas war ein Mensch, der sich mit erstaunlicher Präsenz an Details zu erinnern vermochte und folglich das tragische Schicksal seiner Generation der jüdischen Deutschen lebensnah aufleuchten lässt: Das jüdische Leben in der Weimarer Republik, der Untergang im Nationalsozialismus, die Emigration nach Palästina und sein erfolgreiches Wirken in Nordamerika, seiner zweiten Heimat.
Zusammen mit den Erinnerungen von John Herz und Felix Gilbert bilden die Erinnerungen von Hans Jonas ein bleibendes Vermächtnis deutsch-jüdischer Intellektueller, die nach 1933 in der Emigration in Nordamerika ihr Lebenswerk fortsetzten und zugleich das geistige Leben der atlantischen Zivilisation von Amerika aus auf Europa zurück wirkend befruchteten.
Hans Jonas
Erinnerungen.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 2003; 495 S., 24,90 Euro