Andrzej Szczypiorski: ein beispielhaftes polnisches Leben
Anna Kijowska, einer ausgewiesenen Kennerin der polnischen Literatur, ist es gelungen, in ihrem Buch den polnischen Schriftsteller Andrzej Szczypiorski (1928 - 2000) - in Deutschland bekannt geworden durch sein Buch "Die schöne Frau Seidemann" - in aller Widersprüchlichkeit von Zeit und Raum und wandelndem Zeitgeist im kommunistischen und später im demokratischen Polen darzustellen.
So erfahren wir nicht nur viele Episoden aus dem Leben und Schaffen des Schriftstellers und eifrigen Publizisten, sondern auch über Polen, über die jeweils vorherrschende Ideologie oder die Menschen, die diesen Zeitgeist prägten. Spannend wird über das Nachkriegspolen mit seinen vielen Facetten erzählt: über den Terror in der stalinistischen Zeit, die Freiheitsaufbrüche, den Antisemitismus, das Entstehen der Opposition und die wachsende Stärke der Solidarnosc, das Kriegsrecht bis hin zum großen politischen Umbruch und die vielfältigen innenpolitischen Querelen und den Despotismus der katholischen Kirche.
Oft werden Reflexionen und kurze Auszüge aus den Werken des Autors sprachgewaltig und in voller Farbenpracht eingeblendet. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass dieses Buch mehr ist als eine Biographie. Vor uns liegt eine Art zeitgenössische polnische Kultur- und Geistesgeschichte, aber auch eine besondere Art der deutsch-polnischen Geschichte mit vielen plausiblen kulturellen und politischen Hintergrundinformationen. Wen kann es wundern, dass nach den tragischen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs mit den leidvollen Erfahrungen für das polnische Volk das polnisch-deutsche Verhältnis bis in die Seele hinein zerstört war und Polen und Deutsche mit den Erinnerungen und Ängsten eigentlich bis heute in gewisser Weise verhaftet sind.
In den Jahren nach dem Krieg gehörte Szczypiorski wie auch andere Intellektuelle in Polen zu den Deutschenhassern. Obgleich es auch andere Stimmen gab, wie in der Wochenzeitschrift "Tygodnik Powszechny", die warnten, sich nicht vom Hass infizieren zu lassen, hasste Szsczypiorski die Deutschen: "Deutsche können nur leben, wenn sie morden." Wir lesen, dass er bis Ende der 60er-Jahre zu den Regimetreuen gehörte und alle Privilegien genoss, die es damals nur so gab.
Als er dann zum oppositionellen Schriftsteller und zum Versöhner zwischen dem jüdischen und polnischen Volk wie zwischen Deutschland und Polen wurde, brachte ihm das Gegner und Bewunderer ein. Es ist das Verdienst der Autorin, dass sie die vielen Zwiespältigkeiten in den deutsch-polnischen Beziehungen aus deutscher und aus polnischer Sicht beleuchtet. Entstanden ist ein kompliziertes Mosaik, das mehr erklärt als verschweigt.
1988 kam für Szczypiorski der große Durchbruch, als "Die schöne Frau Seidemann" auf dem deutschen Buchmarkt erschien. Aus dem wenig bekannten Publizisten und Schriftsteller war auf einmal ein ebenso populärer wie umstrittener Schriftsteller geworden. In Deutschland stand das Buch lange auf den Bestsellerlisten. Der Autor erntete Dank und Bewunderung, da er es gewagt hatte, das Pauschalurteil über die Deutschen in Polen zu brechen und nicht alle Deutsche mit Nazis gleichzusetzen.
In Polen dagegen hagelte es nur so von Irritationen und scharfer Kritik. Dem Autor wurde vorgeworfen, die Deutschen aus ihren Schuldgefühlen entlassen zu haben. Man klagte ihn an, sich von den Deutschen instrumentalisieren zu lassen und fragte, warum er den nationalen Kanon des kollektiven Gedächtnisses so verletzen konnte. Anna Kijowska schreibt: "Was ihn in den letzten zwölf Jahren seines Lebens wohl am meisten umstritten machte - sowohl unter Schriftstellerkollegen als auch unter Politikern und Journalisten -, war sein Erfolg in Deutschland".
Szczypiorski war gerade in den 90er-Jahren zu einem der kritischsten Denker in Polen geworden, der auch manches plakativ - wohl vom Zeitgeist geprägt - daher gesagt hatte wie: die "roten Preußen" oder alle Ostdeutschen seien der Ausdruck der Dummheit. Wenn er jedoch in Polen scherzhaft oder auch allen Ernstes losdonnerte und seinen Landsleuten manche schmerzhafte Kritik zu sagen wagte, vor keiner Institution - auch nicht vor der katholischen Kirche - Halt machte, dann bebte so mancher und zürnt ihm noch heute, obwohl er doch nicht mehr unter uns ist.
Karin Tomala
Marta Kijowska
Der letzte Gerechte.
Andrzej Szczypiorski - eine Biographie.
Aufbau-Verlag, Berlin 2003; 397 S., 20,- Euro