Würdigung zum 100. Geburtstag
War er nun ein guter Politiker - oder nicht? Anlässlich des 100. Geburtstages von Kurt-Georg Kiesinger diskutierten Zeitzeugen wie sein damaliger Persönlicher Referent, Staatssekretär a.D. Hans Neusel, der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz, und der dienstlängste Außenminister, Hans-Dietrich Genscher, diese Frage aus ihrer Sicht. Schauplatz der von der Stiftung "Haus der Geschichte" am 16. März 2004 initiierten Veranstaltung war das Palais Schaumburg in Bonn, zu seinen besten Zeiten Sitz des jeweiligen Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland.
Kurt-Georg Kiesinger, am 6. April 1904 in bescheidene Familienverhältnisse hineingeboren, hatte Rechts- und Sozialwissenschaften studiert, arbeitete als Anwalt und in der Rundfunkabteilung des Reichsaußenministeriums, war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP und blieb deshalb immer auch umstritten. 1968 wurde er, schon amtierender Bundeskanzler, dafür von der SDS-Aktivistin Beate Klarsfeld mit einer spektakulären Ohrfeige bedacht. Dabei hatte er während seiner Tätigkeit im Außenministerium antijüdische Aktionen verhindert und war 1948 bereits "entnazifiziert" worden. 1949 kam Kiesinger für die CDU in den Bundestag, 1958 wurde er vom baden-württembergischen Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt.
Die politische Nagelprobe kam mit dem schwersten Amt: Nachdem 1966 die Koalition von CDU/CSU und FDP zerbrochen war, wurde Kiesinger drei Jahre lang Bundeskanzler der Großen Koalition mit dem Außenminister Willy Brandt. In den Auseinandersetzungen um Atomwaffensperrvertrag und Konjunkturpolitik hatte er "manchmal das Gefühl, er sei eher Inhaber einer Reparaturwerkstatt als der eines Großbetriebes". So verzichtete der später als "vergessener Kanzler" bezeichnete Politiker 1971 auf eine erneute Kandidatur und schied 1980 aus dem Bundestag aus.
Er wurde dennoch von seinen politischen Gegnern geachtet. Schon nach Kiesingers Wechsel von Bonn nach Stuttgart hatte ausgerechnet der für seine knallharten Sprüche bekannte SPD-Politiker Herbert Wehner ihm kurz und bündig telegrafiert: "Bonn wird ärmer! - Wehner". Der ehemalige Kommunist respektierte das ehemalige NSDAP-Mitglied, das "als wandelnder Vermittlungsausschuss" mit dem seinerzeit als "feigen Emigranten" kritisierten Willy Brandt die Regierung bilden musste! Die Diskussionspartner in Bonn waren sich jedoch nicht einig, ob die Regierung die in jener Zeit entstandene Außerparlamentarische Opposition begünstigt habe.
Klaus Hildebrand, Professor an der Universität Bonn, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Zeitgeschichte, bereitet ein Buch über den keinesfalls vergessenen Kiesinger vor. "Guter Politiker oder kein guter?" Kiesinger konnte nicht so "frei" regieren wie zum Beispiel Adenauer. Das erlaubte die Konstellation der "zusammengesetzten Regierung" nicht. Er war nach Meinung der Zeitzeugen zwar ein "hoch politischer, aber kein hoch machtpolitischer Mensch". Rosemarie Heckmann