Afghanistan sucht die Früchte der Freiheit
Jedes Jahr wird in der östlichsten Großstadt Afghanistans zur Feier der Orangenbaumblüte ein Redner- und Dichter-Festival abgehalten. Auch politische Satire findet sich darunter. Das ist in einem Land, das bis heute nie eine wirkliche Meinungsfreiheit gekannt hat nicht selbstverständlich.
"Die Menschen trauen sich, offener zu reden als in den Vorjahren und sie wollen sich Luft machen", sagt Daoud Waffa, der für Radio Azadi über das Festival berichtet. "Ein Brief an den lieben George Bush", unkt ein kabarett-würdiger Redner auf der Bühne: "Du kümmerst dich, so lässt du uns wissen, um die Menschenrechte, aber unsere Söhne nimmst du ungefragt nach Guantanamo mit." Tosender Beifall, einmal mehr.
Wenige Kilometer südlich von Jalalabad, in den so genannten "tribal areas" herrscht immer noch Krieg, unter Ausschluss der Öffentlichkeit wohlgemerkt. Dort setzen US-Spezialkräfte ihre Jagd nach mutmaßlichen Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern fort. "Hunting the bad guys" - die "bösen Jungs" jagen, heißt es im Jargon der GIs. "Wir setzen vor allem auf die PRTs, sie stellen Kontakt und Vertrauen zur Bevölkerung her", zeigt sich Oberstleutnant Bryan Hilferty zuversichtlich. PRT bedeutet "Provincial Reconstruction Team". Jedes besteht aus 80 bis 100 Soldaten, die auch zivilen Wiederaufbau leisten sollen. In Lawra, einem Ort im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, empfinden die Dorf-Bewohner das anders. "Die Amerikaner haben ihr Militärlager so gebaut, dass sie unser Dorf als Schutzschild und Brandmauer gegen mögliche Angreifer benutzen", beschwert sich der Dorfälteste Naim Khan. "Außerdem verbieten sie uns mit der Presse zu sprechen." In Orten, in die die PRT-Einheiten vordringen, hinterlassen sie Decken, Pullover und Medikamente für die einheimische Bevölkerung. Und: Koffer voll Geld, wenn es sein muss. Oft sind die Dorfältesten nur so bereit, sich auf ihre Seite zu schlagen.
"Bislang ist noch kein Taliban oder Al-Qaida-Mann von Rang und Namen in Afghanistan festgenommen worden", kritisiert Reinhard Erös die Strategie der USA. "Das alles ist eine große Hollywood-reife Show, um die Öffentlichkeit von den wahren Problemen des Landes abzulenken", meint der ehemalige Bundeswehr-Arzt, der mit seiner NGO "Kinderhilfe Afghanistan" in den östlichen Provinzen arbeitet.
Reinhard Erös unterstützt seit 15 Jahren Schulen und Kliniken. Dem städtischen Krankenhaus von Jalalabad hat er dieser Tage ein erstes Röntgengerät übergeben, der "Nangahar Boys School" stiftete er eine Solaranlage zum Betreiben eines Computer-Raums. "Ich leiste mit ein wenigen Leuten, wozu große NGOs 15 Millionen Euro verpulvern."
Hans Dube, Experte der GTZ in Kabul, sieht das Problem so: "Höchstens 20 Prozent der Entwicklungsgelder für Afghanistan erreichen wirklich die Menschen. Die übrigen 80 Prozent gehen für Verwaltungskosten in Deutschland, Gehälter und in die Anschaffung teurer Wagen drauf."
Die schick-weißen Landrover, häufig mit dem blauen Emblem der Vereinten Nationen versehen, prägen tatsächlich das Stadtbild von Kabul. Mit ihren faustdicken Antennen vorn oberhalb der Stoßstange sehen die Rover aus wie fahrende Potenz-Protzer. Das Geld von mittlerweile über 1.000 NGOs in Afghanistan hat die Verhältnisse in Kabul und Städten mit großer internationaler Präsenz wie Mazar, Herat oder Kandahar längst auf den Kopf gestellt. Mahmood, der 15-jährige Übersetzer am Eingangstor einer Kabuler ISAF-Kaserne, bekommt für seine Dienste 450 Dollar pro Monat.
Gulam Behbood dagegen ist mit 53 dagegen schon ein paar Jahre älter als die durchschnittliche Lebenserwartung eines Afghanen, die bei 48 Jahren liegt. Er ist Professor für Deutsch an der Universität von Kabul, bekommt ein Monatsgehalt von 2.000 Afghani, umgerechnet 40 Dollar. "Um meine Familie ernähren zu können, gebe ich Deutsch-Unterricht am Goethe-Institut", erzählt er ruhig, aber nicht ohne Frust.
Ich bin mit Gulam Behbood um 18.00 Uhr zum Essen verabredet. Um 19.30 Uhr treten wir bereits den Nach-Hause-Weg an. Kabul im Dunkeln ist unsicher, die Provinz ist es noch mehr. "Präsident Karsai regiert bis zur Stadtgrenze, darüber hinaus herrscht Gesetz- losigkeit", erklaert Nick Downie von ANSO, einer in Kabul ansässigen NGO, die Ausländer mit Sicherheitsinformationen versorgt. "Sie müssen sich das so vorstellen", sagt Downie mit dem Finger auf der Landkarte, "im Osten und Süden des Landes regieren am Vormittag die von Karsai eingesetzten Gouverneure und am Nachmittag müssen sie den Platz räumen für andere, denen Karsais Politik ein Dorn im Auge ist."
Präsident Karsai versucht in den Provinzen zum Teil Gouverneure zu installieren, die aus entfernten Regionen stammen. Das stößt auf Misstrauen. Auch Ismail Kahn, den Gouverneur von Herat, will Karsai auswechseln, heißt es. Ein möglicher Grund für das jüngste Blutbad in der Provinz, so wird spekuliert. Überhaupt ist Karsais Ansehen unter den Afghanen, auch und gerade bei den Paschtunen, merklich ramponiert: "Er sitzt in einer Regierung, die von Tadshiken der Nordallianz dominiert wird, er kümmert sich nicht ausreichend um unsere Interessen und er repräsentiert keinen führenden Stamm der Paschtunen", erklärt Abdulbari Seddiqi von der Medien-NGO Aina.
Karsais größte Gegner sitzen unter anderem in seiner eigenen Regierung. Nach wie vor mächtige Warlords wie Marschall Fahim, der Verteidigungsminister, oder Usbeken-General Rashid Dostum unterhalten unverändert Milizen, die mehrere Zehntausend Mann stark sind. Vor wenigen Wochen gaben 1.000 Soldaten aus Fahims und Dostums Lager ihre Waffen ab. Ob das mehr als ein Symbol ist, wird sich noch zeigen müssen.
Laut Petersberger Abkommen sollen die Warlords in Afghanistan Zug um Zug entwaffnet werden. Sie sind auch deshalb noch so stark, weil der Aufbau einer neuen afghanischen Armee nur schleppend vorangeht. Statt der angepeilten 70.000 Mann sind bisher nur 7.000 kaserniert. Viele desertierten. Als Grund wird das geringe Gehalt von umgerechnet 30 Dollar im Monat angegeben. Außerdem fühlen sich paschtunische Soldaten offenbar benachteiligt. Viele führende Posten seien den Tadshiken zugeschlagen worden, heißt es.
Die afghanische Armee allein kann unmöglich für Sicherheit bei den September-Wahlen sorgen. Es wird einmal mehr ausländischer Hilfe bedürfen. Die NATO hat bereits zugesagt, weitere Soldaten für einen entsprechenden Zeitraum zu entsenden, aber noch keine Zahlen genannt. Die Angst ist immer mit im Spiel. Denn nach den großen Städten geht die Wähler-Registrierung jetzt auf dem Land weiter, und dort lauert die Gefahr.
"Je näher die Wahlen rücken, desto mehr muss man sich auf Gewalt einstellen", sagt Liz Sly, Korrespondentin der "Chicago Tribune". "Eine Reihe von Mullahs predigt gegen die neue Verfassung und die Wahlen, die darin vorgesehen sind. Demokratie wird von ihnen als eine Bedrohung für den Islam und die Gesellschaft angesehen."
Bisher sind 1,5 Millionen der geschätzten 10,5 Millionen Wahlberechtigten registriert. 22 Prozent davon sind Frauen. Auf dem Land, vor allem in den Paschtunen-Gebieten im Süden und Südosten, ist es Frauen traditionell verboten, das Haus zu verlassen. Ohne dass sie den Fuß vor die Haustür setzen, können sie aber nicht für die Wahlen registriert werden. "Wir wollen bis Anfang Mai zusätzliche 4.200 Büros einrichten, in denen sich die Wähler registrieren lassen können. Wir werden mobile Teams einrichten, damit die Frauen nicht soweit laufen müssen und wir werden Moscheen für die Registrierung nutzen, weil das Vertrauen schafft", so UN-Mitarbeiter Najib Raza.
Die Frage, wer für Sicherheit in und auf dem Weg zu den Wahlbüros sorgen soll, bleibt vorerst unbeantwortet. Viele scheinen sich schon jetzt mit der Wiederwahl von Hamid Karsai abzufinden. Auch weil sich bisher noch keine ernsthaften Konkurrenten zu erkennen gegeben haben. Völlig unklar ist zudem, wie die parallel verlaufenden Parlamentswahlen stattfinden sollen. Ein Parteiengesetz gibt es bislang nicht. Erst wenige kleine Parteien haben sich offiziell registrieren lassen. Die großen politischen Bewegungen von Marschall Fahim oder Rashid Dostum verfügen über Milizen, die bis zum Wahltermin eigentlich entwaffnet werden müssten.
In Jalalabad blühen derweil nicht nur die Orangenbäume. Felder von violetten, roten und weißen Mohnblumen, so weit das Auge reicht, prägen die Täler. "Dieses Jahr wird zehnmal mehr Opium angebaut als im Vorjahr", schätzt Reinhard Erös. In wenigen Tagen wird die Ernte eingefahren. Dann wird die geronnene klebrige Masse aus den runden Mohn-Knospen abgeschabt und an Händler weiterverkauft. "Wir bekommen nur zwei Prozent des tatsächlichen Verkaufspreises", sagt Ahmad Reshad, ein Bauer im Hochland der Provinz Laghman. "Mit einer Ernte kann ich genug verdienen, um meine 14 Kinder das Jahr über zu ernähren. Wenn die UNO oder andere mir das Zeug abkaufen und es vernichten wollen, müssten sie mir 100.000 Afghanis im Jahr geben (circa 1.800 Euro) oder eine sinnvolle Alternative vorschlagen." Die ist bislang nicht gefunden. Amerikaner und Europäer, zugleich Hauptabnehmer für das Opium-Endprodukt Heroin, haben sich diesbezüglich bisher keine Meriten verdient. So schön die Mohnfelder sind, fotografieren gilt als gefährlich. "Bauern und Opium-Händler sind misstrauisch", sagt Daoud Waffa, "wenn ihnen etwas nicht gefällt, dann schicken sie dir einen Killer auf den Hals. Es gibt genug, die das für 30 Dollar erledigen."
Auf Mord folgt in Afghanistan nicht automatisch Gefängnis. Durch Korruption und Bestechung, so Schätzungen, kommen neun von zehn Tätern wieder frei oder gar nicht erst hinter Gitter. Ein Rechtsstaat, wie er in der neuen Verfassung erwähnt ist, steht in Afghanistan erst am Anfang.