Interview mit EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen
Das Parlament: Der letzte Fortschrittsbericht der EU-Kommission über den Stand der Beitrittsvorbereitungen der zehn Länder ist insgesamt positiv ausgefallen. Nur bei drei Prozent der EU-Gesetzgebung haben die Staaten noch Probleme. Welche müssen vor dem Beitrittstermin am 1. Mai unbedingt noch ausgeräumt werden?
Verheugen: Inzwischen hat es ja große Bemühungen gegeben, die identifizierten Probleme zu überwinden. Wir haben jetzt noch einmal und intensiv die Vorbereitungen angeschaut, und ein erheblicher Teil der im Herbst aufgezählten Probleme ist bereits verschwunden. Im Augenblick ist es so, dass beinahe täglich Mitteilungen über den Abschluss von Gesetzgebungsarbeiten kommen. Heute kann ich sagen, als problematisch bleiben zwei Dinge übrig: 1. Die Schaffung der notwendigen Verwaltungsstrukturen, um die Agrarsubventionen ordnungsgemäß auszahlen zu können. Hier gibt es überhaupt kein Risiko für die Europäische Union. Wenn die neuen Mitgliedsländer nicht in der Lage sind, die Beihilfen ordnungsgemäß auszuzahlen, dann bekommen sie eben das Geld nicht von uns. Da gibt es verständlicherweise einen großen Anreiz in unseren neuen Mitgliedsländern, dieses Problem noch in Ordnung zu bringen. Im Übrigen muss es ja nicht so sein, dass die neuen Länder zu dumm sind, um unseren Anforderungen zu genügen. Die jetzigen Mitgliedsländer sind ja sozusagen mit dem System gewachsen. Das ist offenbar so kompliziert geworden, dass es für ein neues Land ungeheuer schwer ist. Da sollte man mal ein bisschen drüber nachdenken. Das 2. Problem ist die Lebensmittelsicherheit.
Das Parlament: In dieser Frage ist die Bevölkerung in den bisherigen 15 EU-Staaten bereits etwas beunruhigt darüber, dass die Lebensmittelsicherung bei Exporten aus den Beitrittsländern nicht gewährleistet ist. Was kann die Kommission zur Beruhigung der Menschen unternehmen?
Verheugen: Wir werden alle notwendigen Maßnahmen treffen, das ist auch alles schon vorbereitet, um sicherzustellen, dass Betriebe, deren Produkte nicht unseren Standards entsprechen, für den Binnenmarkt nicht zugelassen werden. Hier liegt das Risiko ebenfalls fast nur auf Seiten der neuen Mitgliedsländer, weil das Endergebnis schon dazu führen kann, dass mehr Lebensmittel verarbeitende Betriebe geschlossen werden müssen, als es ursprünglich vorgesehen war. Die Linie ist klar: Keine Kompromisse in dieser Frage. Keine Lebensmittel auf dem Binnenmarkt, die nicht vollständig den Standards entsprechen. Alles andere an Gesetzgebungsproblemen hat keine Auswirkungen auf den Binnenmarkt. Und wenn ich hier gegenüberstelle, was in den neuen Mitgliedsländern noch zu tun ist, und die Tatsache, dass in den alten Mitgliedsländern zurzeit mehr als 2.200 Vertragsverletzungsverfahren anhängig sind, weil die Kommission festgestellt hat, dass in mehr als 2.200 Fällen das Gemeinschaftsrecht nicht umgesetzt worden ist, dann relativiert sich das sehr. Ich bleibe deshalb bei der Aussage, es ist die am besten vorbereitete Erweiterung der Europäischen Union.
Das Parlament: Das EU-Recht in nationales Recht zu übernehmen, ist eine Sache, es in der Praxis auch anzuwenden, eine andere, wie man an den alten Mitgliedsländern sieht. Wie will die Kommission hier vorgehen?
Verheugen: Das ist sicherlich eine ganz schwerwiegende Frage, und auch hier muss man sich im Klaren darüber sein, dass es Anlaufschwierigkeiten geben wird. Ich habe immer gesagt, niemand sollte hundertprozentige Perfektion von Anfang an erwarten. Die gab es aber auch bei keinem neuen Mitgliedsland. Alle haben erst einmal lernen müssen. Die administrativen Strukturen und manchmal auch die rechtsstaatlichen Strukturen oder Institutionen sind natürlich nicht so wie in Deutschland, Österreich oder in Luxemburg. Das ist eine Frage erstens des zur Verfügung stehenden Personals und zum anderen einfach auch eine Frage des Geldes. Aus den vorhandenen Möglichkeiten haben die Länder das Beste gemacht, und ich muss einfach einmal ein Wort der Ehrenrettung für die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes in diesen Ländern sagen, die ja zu Gehältern arbeiten, zu denen bei uns niemand überhaupt nur einen Bleistift in die Hand nehmen würde. Sie leisten eine unglaublich schwierige Transformationsarbeit. Es ist ein Bereich, der sicherlich noch nicht perfekt ist und wo wir wohl noch eine Reihe von Jahren brauchen werden, bis wir das Maß an wünschenswerter Perfektion erreicht haben, das wir in den meisten bisherigen Mitgliedsländern auch nicht erreicht haben.
Das Parlament: Muss die alte EU nicht mit einer Schwemme von Arbeitnehmern rechnen, die bereit sind, zu Billigstlöhnen zu arbeiten und dadurch hiesige Arbeitsplätze gefährden?
Verheugen: Nein, unter keinen Umständen. Aus zwei Gründen nicht: Erstens haben wir Übergangsfristen eingebaut, und die Freizügigkeit für Arbeitnehmer tritt überhaupt erst nach sieben Jahren in Kraft. Jedes Mitgliedsland kann also noch sieben Jahre seinen Arbeitsmarkt schützen, wenn es das für erforderlich hält. Ich bin übrigens seinerzeit, als ich das durchgesetzt habe, in einer Reihe von EU-Länder sehr mit dem Argument kritisiert worden, das sei eine Schande, dass man den Neuen dieses besonders wichtige Recht zunächst einmal vorenthält. Jetzt sehe ich, das alle sehr dankbar sind, dass dieses Instrument besteht. Selbst da, wo es von der Sache her vielleicht nicht zwingend ist, haben sich die meisten wohl doch entschieden, die Übergangsfristen in Anspruch zu nehmen, weil es politisch und psychologisch außerordentlich wichtig ist, den Menschen zu zeigen, dass jetzt keine solche Einwanderungswelle kommt. Der zweite Grund ist, Billiglöhner können nicht kommen, weil die Entsenderichtlinie ja in Kraft bleibt. Das heißt, Arbeitnehmer aus einem anderen europäischen Land müssen in Luxemburg zum Beispiel zu luxemburgischen Bedingungen arbeiten. Sie können nicht, sagen wir mal aus Litauen nach Luxemburg gehen und sagen: "So ich bin Maurer und ich mach's für zwei Euro die Stunde." Es sei denn, es geschähe illegal.
Das Parlament: Wie war es bei den früheren Erweiterungen?
Verheugen: Alle Erfahrung mit bisherigen Erweiterungen, insbesondere die Süderweiterung um Griechenland, Spanien und Portugal, zeigt ganz klar, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht zu einem Ansteigen der Wanderungsbereitschaft führt, sondern zu einem Rückgang, weil die Leute viel mehr Hoffnung haben, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse bei ihnen selbst bessern und sie für sich und ihre Kinder ein menschenwürdiges Leben zu Hause führen können. Das ziehen die Menschen immer vor. Arbeitnehmermobilität ist in Europa ja erstaunlich gering, in Wahrheit ja sogar zu gering, und ich rechne also eher damit, dass wir in ein paar Jahren, wenn die Auswirkungen des Geburtenrückgangs überall auf den Arbeitsmärkten in Westeuropa sichtbar sind, eher Probleme mit zu geringer Arbeitnehmermobilität haben werden. Dann gibt es noch einen Punkt, der macht mir allerdings ganz, ganz große Sorgen. Das ist das Problem des "brain-drain", das heißt, dass die alten Mitgliedsländer dazu übergehen könnten, die talentiertesten, am besten ausgebildeten und hoch qualifizierten jungen Leute aus den neuen Ländern abzuwerben. Nach sieben Jahren ist dagegen auch gar kein Kraut mehr gewachsen, und damit die Entwicklungschancen dieser Länder zu behindern. Nun muss man allerdings sagen, dieser "brain-drain" findet bereits statt, heute im wesentlichen in Richtung USA, Kanada und andere typische Einwanderungsländer. Die Amerikaner profitieren in einer ungeheuren Weise von dem sehr hohen Ausbildungsniveau in den ost- und mitteleuropäischen Ländern und der Tatsache, dass gut ausgebildete junge Leute in hellen Scharen in die USA gehen. Dann ist es im Endergebnis natürlich schon besser - wenn sich das nicht stoppen lässt - wenn sie wenigstens in der Europäischen Union bleiben. Es hilft dann insgesamt, um ein stärkeres Wachstum zu erzeugen. Aber es ist schwer, hier konkret etwas zu tun.
Das Parlament: Mit welchem konkreten Zustrom rechnet die Kommission dennoch in den ersten Jahren, wie viele Hunderttausende werden erwartet?
Verheugen: Ganz wenige. Der Nettozuwachs wird bei weniger als 300.000 Menschen für die gesamte Europäische Union liegen. Das ist fast nichts auf die 15 Länder aufgeteilt.
Das Parlament: Besonders spannend ist die Lösung der Zypern-Frage, die sich derzeit abzeichnet. Eine Wiedervereinigung wäre sicherlich im Sinne der dortigen Bevölkerung. Aber würde die EU nicht damit der Möglichkeit beraubt, Nein zu Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei zu sagen?
Verheugen: Nein. Im Hinblick auf die europapolitischen Aspirationen der Türkei ist die Lösung der Zypern-Frage eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Voraussetzung. Die Lösung der Zypern-Frage würde nicht bedeuten, dass es einen Rabatt für die Türkei auf die Erfüllung der politischen Beitrittsvoraussetzungen gibt. Die Lösung dieser Frage würde ein Hindernis beseitigen, das andernfalls zusätzlich zu der Prüfung, ob die Beitrittskriterien erfüllt sind, noch entstehen würde. Mein Eindruck nach meinen Gesprächen in Ankara ist der, dass die jetzige türkische Regierung wirklich eine strategische Entscheidung getroffen hat. Die Türken sind sehr zuverlässige Partner. Die Aussichten für eine Lösung der Zypern-Frage noch vor dem 1. Mai halte ich immer noch für ganz gut. Dies hätte natürlich enorme Auswirkungen, denn wir könnten damit demonstrieren, dass das europäische Integrationsmodell nicht nur in der Lage ist, Konflikte zu vermeiden, sondern auch Konflikte zu lösen. Dies wäre auch ein starkes Signal für die Nachbarregion Zyperns. Momentan stehen viele meiner Experten in Nikosia bereit, um die notwendige Abstimmung vorzunehmen zwischen dem Friedensprozess und dem Beitrittsprozess. Am Ende muss es ja deckungsgleich sein.
Das Parlament: Das Europaparlament hat auf seiner ersten März-Sitzung darauf hingewiesen, dass der Beitrittstermin für Rumänien 2007 gefährdet ist. Muss man jetzt von einer Entkoppelung der Beitritte Rumäniens und Bulgariens ausgehen?
Verheugen: Nein, eine solche Entkoppelung hat das Parlament nicht verlangt und von der Kommission ist sie nicht vorgeschlagen und vom Rat nicht beschlossen worden. Der Fahrplan ist unverändert. Das politische Ziel besteht darin, die Verhandlungen in diesem Jahr abzuschließen, im nächsten Jahr die gemeinsamen Beitrittsverträge zu unterzeichnen und im Jahr 2007 die Beitritte zu vollziehen. Doch das alles gilt nur dann, wenn beide Länder die Voraussetzungen vollständig erfüllen. Es gilt der Grundsatz der eigenen Verdienste, das heißt jedes Land wird für sich bewertet. Ein Land muss auch nicht warten, bis das andere fertig ist. Ich sehe keine allzu großen Probleme mit Bulgarien. Was Rumänien angeht, so hat es konkrete Ereignisse gegeben, dass dem Europäischen Parlament der Geduldsfaden gerissen ist. Es gibt Probleme mit der Korruption, Umsetzungsprobleme beim EU-Recht und so weiter, eine ziemlich lange Liste. Ich habe vor wenigen Tagen mit dem rumänischen Ministerpräsidenten sehr ernsthaft gesprochen. Das Ergebnis war eine klare Verpflichtung der Regierung, unverzüglich bestimmte Dinge zu tun. Der Ministerpräsident hat eine Kabinettsumbildung vorgenommen, die ermutigend aussieht, eine Reihe von Umstrukturierungen innerhalb des rumänischen Apparates, und soweit ich es beurteilen kann, ist auch das Gesetzgebungsprogramm gestrafft worden. Es bedarf aber noch großer Anstrengungen, um in diesem Jahr die Verhandlungen abzuschließen, doch ich glaube nicht, dass der Beitritt im Jahr 2007 ernsthaft gefährdet ist.
Das Parlament: Kroatien hat sein Beitrittsgesuch gestellt. Wird das Land eine Sonderrolle innerhalb der West-Balkanstaaten auf ihrem Weg in die EU einnehmen?
Verheugen: Das ist möglich. Es ist eindeutig, dass unter den anderen Ländern des westlichen Balkans Kroatien die aussichtsreichsten Chancen hat. Das Beitrittsgesuch liegt vor. Die Kommission wird in Kürze ihr Gutachten vorlegen. Sie wird dann ihre Empfehlung abgeben, wie wir weiter verfahren sollen. Der Rat sagt nicht, alle Länder des so genannten Westbalkans müssen gleich behandelt werden. Auch hier gilt das Prinzip der Differenzierung und der eigenen Verdienste. Es wäre auch nicht fair gegenüber Kroatien zu sagen, ihr müsst warten, bis Staaten wie Serbien und Montenegro oder Bosnien-Herzegowina westlichen Standards entsprechen.
Das Parlament: Wo liegen für Sie die Grenzen der EU, beziehungsweise welche Staaten haben keine Beitrittsperspektive?
Verheugen: In Europa können Sie kein Land ausschließen, weil der Vertrag besagt, dass jedes europäische Land das Recht hat, sich um eine Aufnahme zu bemühen. Aber wir sehen von uns aus für eine Reihe von Ländern eine Beitrittsperspektive nicht für die vorhersehbare Zukunft vor: Russland, Ukraine, Moldawien, Weißrussland und die Staaten des südlichen Kaukasus. Für eine ziemlich lange Zeit wird die Westgrenze der früheren Sowjetunion mit Ausnahme der baltischen Länder die Ostgrenze der Europäischen Union sein.
Das Parlament: Könnten diese genannten Länder nicht sagen, was für die Türkei Recht ist, muss für uns billig sein?
Verheugen: Die Türkei ist ja ein anderer Fall. Sie hat schon sehr privilegierte Beziehungen mit uns und seit 1963 eine Beitrittsaussicht, die immer wieder bestätigt wurde, und zwar aufgrund ihrer überragenden strategischen Bedeutung für die Sicherheit Europas. Ich teile das Argument nicht, wenn man die Türkei nimmt, muss man auch all die anderen aufnehmen. Man darf die Erweiterung nicht immer nur von den Ansprüchen möglicher Beitrittländer her betrachten, sondern auch unsere Interessen. Die Türkei wird als ein Land gesehen, das eine wichtige Rolle spielen kann in Bezug auf die Sicherheitsprobleme des 21. Jahrhunderts, insbesondere in Bezug auf die Gestaltung des Verhältnisses zwischen europäischen Demokratien und der islamischen Welt.
Das Interview führte Hartmut Hausmann.