Weniger ist mehr. Mit dem Streichen von Gesetzen und Verordnungen wollen Bund und Länder die Wirtschaft beflügeln und Bürokratie abbauen
Deutschland ist bekannt für seine Sorgfalt, seine Sicherheit, aber eben auch für seine Bürokratie: Doch nun haben sich einige Bundesländer und Modellregionen dazu durchgerungen, Genehmigungsvorbehalte zu streichen, Verfahren zu beschleunigen und Auflagen außer Kraft zu setzen. Nordrhein-Westfalen, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern schaffen ab, was vielen Unternehmern in Deutschland ein Dorn im Auge ist: Den lange Weg der Bürokratie, der schon manches Unternehmen bereits vor seinem Start das Aus gekostet hat.
Im Regierungsbezirk Detmold gilt das "Bürokratieabbaugesetz OWL" von April an versuchsweise für drei Jahre. Beispielsweise müssen die Gemeinden ihre Genehmigung für die Ansiedlung großer Einkaufszentren sowie ihre Zustimmung zu Sonn- und Feiertagsarbeit in Zukunft nur noch in der Landeshauptstadt melden. Kommt von dort binnen zwei Wochen kein Einspruch, gilt dies als Zustimmung.
Das Gesetz ist in gewisser Weise aus dem Druck der lähmenden Verhältnisse heraus geboren. Denn: Länder und Kommunen stehen sich oft selbst im Weg. Der Detmolder Landrat Friedel Heuwinkel, dessen Landkreis Lippe eine Stiftung gegründet hat, kann davon ein trauriges Lied singen. Die Stiftung seines Landkreises soll Existenzgründern Risikokapital leihen. Obwohl der Kreistag die "Stiftung Standortsicherung" einstimmig beschlossen habe, diskutieren die Landespolitiker "seit mehr als neun Monaten", ob die Einrichtung einer solchen Stiftung der Gemeindeordnung widerspricht. Selbst der Bau eines Kindergartens werde zum bürokratischen Hürdenlauf, schimpft Heuwinkel. "Die Gemeinde baut, dann kommt das Kreisjugendamt und bestimmt, in welcher Höhe die Kleiderhaken hängen müssen, und schließlich muss die Bezirksregierung das ganze noch abnehmen."
Ein anderes Beispiel nennt Jürgen Heinrich, Projektkoordinator für die Modellregion bei der Marketinggesellschaft Ostwestfalen-Lippe (OWL-Marketing): In der "bereinigten amtlichen Sammlung von Schulvorschriften", der BASS, ist geregelt, wie viele Lehrkräfte eine Schulklasse beim Schwimmen begleiten und welche Helme Schüler beim Schlittschuhlaufen tragen müssen. Inzwischen gäbe es hier so viele Vorschriften, dass die Verantwortlichen den Überblick verloren hätten. Heinrich sieht im Düsseldorfer Landesgesetz für Bürokratieabbau einen "Einstieg in ein neues Politikmodell". Wie in Großbritannien und den USA beginne nun auch der deutsche Gesetzgeber damit, Versuch und Irrtum zuzulassen und Entscheidungen von oben nach unten zu verlegen. Es sei doch sinnvoller, im Gesetz die Ziele - zum Beispiel die Vermeidung von Unfällen an Schulen - festzuschreiben und die Umsetzung den Verantwortlichen vor Ort zu überlassen. Die dürfen dann allerdings nicht mehr, wie bisher häufig der Fall, eine Entscheidung aus Angst vor der Verantwortung verweigern und auf genaue Regeln des Gesetzgebers warten. Alle Änderungen, die sich im nordrhein-westfälischen Modellversuch bewähren, will das Land nach dem Ende des Versuchs 2007 in seine Gesetze übernehmen.
Bremen und die Region Schwerin-Westmecklenburg versuchen ebenfalls mit weniger Amt die Wirtschaft beflügeln und Investoren anzulocken. Die Bremer Bürgerschaft hat den Senat schon im Mai 2003 mit der "Entrümpelung der Landesvorschriften" beauftragt. Die meisten neuen Gesetze und Verordnungen versieht die Bürgerschaft inzwischen wie der nordrhein-westfälische Landtag mit einem Verfallsdatum nach fünf Jahren. Über Bauanträge will die Bremer Verwaltung in Zukunft spätestens acht Wochen nach Einreichung aller Unterlagen entscheiden. Nach Ablauf der Frist soll die Genehmigung ab Sommer 2004 als erteilt gelten. Neu ist in Bremen auch die "Mittelstandsverträglichkeitsprüfung". Bevor ein Gesetz in Kraft tritt, werden seine Auswirkungen auf die mittelständische Wirtschaft überprüft.
Im zukünftigen Landkreis Westmecklenburg haben die Industrie- und Handelskammer, die Handwerkskammer, Landräte sowie die Oberbürgermeister von Schwerin und Wismar 120 Vorschläge zur Verwaltungsvereinfachung zusammengetragen. Wirtschaft und Kommunen wünschen sich hier vor allem Lockerungen im Bau- und Gaststättenrecht. Die Verpflichtung zur Schaffung von Parkplätzen soll aus der Bauordnung gestrichen und - wo das nicht möglich ist - sollen die Ablösesummen gesenkt werden. Bisher zahlt jeder Bauherr in den Innenstädten für jeden nicht geschaffenen Stellplatz 16.000 Euro an die Gemeinde. Für Gewerbebauten soll zukünftig eine Genehmigung ausreichen. Wenn die Behörde nicht binnen sechs Wochen über den Bauantrag entscheidet, soll die Genehmigung als erteilt gelten. Der Leiter der Abteilung Industrie, Technologie und Umwelt bei der IHK Schwerin, Klaus Uwe Scheifler, geht davon aus, dass die meisten Vorschläge noch vor den nächsten Landtagswahlen in zwei Jahren umgesetzt werden.
Parallel zu den Modellregion-Projekten arbeiten Städte, Gemeinden und Landkreise bundesweit an Vorschlägen zum Bürokratieabbau. Mehr als 500 Ideen aus der Bevölkerung hat der Landkreis Emsland über seine Internetseite gesammelt. Anfang des Jahres schrieb der Landrat zudem 12.000 Unternehmen und Freiberufler mit der Bitte um Ideen für eine effektivere öffentliche Verwaltung an. Der Kreis hat nach eigenen Angaben 55 Nebenbestimmungen aus seinen Bewilligungsbescheiden gestrichen. Beispiele für gut gemeint aber letztlich absurde Bürokratie finden sich zu Hauf. So konnte im Emsland eine Heilpraktikerin ihre Praxis nicht eröffnen, weil sie eine behindertengerechte Toilette hätte einbauen müssen. Ihr Argument, dass sie behinderte Menschen nicht in der Praxis, sondern in deren Wohnung behandele, verpuffte vor den Bestimmungen des Baurechts.
Parallel zum Bürokratieabbau in den Ländern arbeitet das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) zusammen mit der Bertelsmann Stiftung an Vorschlägen für weniger Gesetze. Die Stiftung hat dazu im vergangenen Jahr rund 1.000 Vorschläge von Kammern, Kommunen und Unternehmen ausgewertet. Hier finden sich Ideen zu Lockerungen des Gaststättenrechts, Vereinfachungen der Buchführungspflichten für Unternehmen oder die zeitweise Befreiung der Unternehmensgründer von der Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer. Noch im April will das BMWA seine Ergebnisse präsentieren und das Modellvorhaben Innovationsregionen ausschreiben. Kreise, Gemeinden und ganze Bundesländer bewerben sich dann als Modellregionen, in denen per Bundesgesetz Vorschriften versuchsweise für einige Jahre aufgehoben werden. Um aus den Versuchen verlässliche Schlüsse zu ziehen, bräuchte Deutschland mindestens sechs bis acht solcher Modellregionen, schätzt Frank Frick von der Bertelsmann Stiftung. In der Gütersloher Denkwerkstatt koordiniert Frick das Projekt Innovationsregionen für Bürokratieabbau.
70.000 Gesetze und Verordnungen beschäftigen nach Angaben des BMWA die Unternehmen in Deutschland. Ein mittelständisches Unternehmen mit 500 Beschäftigten muss sich nach Angaben der Bertelsmann Stiftung mit durchschnittlich 30 Krankenkassen auseinander setzen. Dazu kommen noch der Papierkrieg mit den Berufsgenossenschaften, der Bundesversicherungsanstalt, den Landesversicherungsanstalten, der Arbeitslosenversicherung, statistische Meldungen an die Kammern, Landesbehörden und Finanzämter. Sinnvoll fände Frick zumindest ein Servicecenter aller Sozialversicherungsträger, das die Unternehmen aus einer Hand betreut.
Dass auch Fachleute nicht mehr durchblicken, zeigt eine Umfrage der Stiftung bei den 16 Bundesländern. Nur fünf Landesregierungen wussten nach Fricks Angaben überhaupt, wie viele Gesetze und Verordnungen sie verwalten. Sachsen meldete 770, Bayern 1.539. Dort fand sich sogar eine Gemeinde, die eine Beschattungsabgabe erhebt. Eine Ladeninhaberin sollte 35 Euro bezahlen, weil ihre Markise in den bayerischen Luftraum ragt.
"Politiker können sich heute nur noch profilieren, in dem sie zu einem aktuellen Missstand ein Gesetz vorschlagen", erklärt Frank Frick das Wachsen des deutschen Gesetzesdschungels. Ist eine Regel erst einmal aufgestellt, finde sich immer ein Experte, der sie für unverzichtbar erklärt.
Gewerkschaften und Umweltschutzverbände warnen dennoch vor der Deregulierungsbegeisterung. Wenn Städte und Gemeinden zu viel unkontrolliert allein entscheiden dürften, wachse die Gefahr sachfremder Einflussnahme, befürchtet die abfallpolitische Sprecherin des Bund für Umwelt und Naturschutz BUND, Claudia Beitinger. Sie erinnert an den Kölner Müllskandal, wo Politiker der Stadt nicht für die Bürger sondern für ihre Freunde in der Chefetage eines großen Abfallunternehmens entschieden hatten. Der Grüne Detmolder Regierungspräsidenten Andreas Wiebe rät zum Kompromiss. Die Bezirksregierungen sollten die Aufsicht übernehmen. Schließlich seien sie in der Nähe des Geschehens und Teil der weniger Einflüssen ausgesetzten Landesverwaltung. Robert B. Fishman