Als türkische Regisseurin in Berlin
Über den 70er-Jahren in Berlin, der geteilten zerrissenen Stadt mit allen ihren Unmöglichkeiten, Umbrüchen und Versuchen, liegt heute schon Patina. Auch die Menschen, die damals hier lebten, beginnen zu vergessen. Emine Sevgi Özdamar aber, türkische Stücke- und Buchschreiberin, erinnert sich genau. Als junge Schauspielerin kommt die Autorin aus Istanbul an den fremden Ort an der Spree. Sie flieht vor der Militärdiktatur in der Türkei, vor dem geschiedenen Ehemann und vor der Ausweglosigkeit.
Sie ist aufgebrochen, um in Berlin Theater zu machen, Brecht-Theater. Sie will sich einen Traum erfüllen und stellt sich im Ostteil an der Volksbühne vor. Der große Regisseur und Prinzipal Benno Besson nimmt sie als seine Regie-Assistentin; eine glückliche Zeit, große Theaterkunst entsteht. Es sind die Jahre zwischen 1976 und 1977 - ein kurzes Stück Leben nur, für sie aber zukunftsentscheidend.
Sie wohnt in Wedding und Pankow. Die sind Welten entfernt voneinander. Es gibt Monate, da muss sie täglich zweimal durch die Mauer, erträgt immer wieder die kalte Routine der Bewacher. Auf der einen Seite düstere Straßen, öde Läden, aber auch das Strahlen der großen Bühne, der berühmten Namen wie Besson, Heiner Müller (der flirtet ein bisschen mit der schönen Türkin), Fritz Marquard, Schauspielerfreundin Heide Kipp. Manche kannten noch Brecht, erzählen Anekdoten von damals. Zum Beispiel die von der schlauen Helene Weigel, die zur Beerdigung des Meisters sieben Paar feine schwarze Strümpfe aus dem Westteil für die Geliebtinnen kommen ließ, damit "die Schlampen anständig" aussähen.
Auf der flimmernden, der verführerischen Seite Berlins wohnt Emine eine Zeitlang mit chaotischen Gefährten in einer WG. Es sind verrückte Beziehungen mit Streit und Liebelei. Ihr Leben wechselt zwischen Euphorie und Sehnsucht, Zukunftsangst und Glück. Auch Heimweh nach Istanbul überfällt sie immer wieder. Sie vermisst die Stimmen der Straße, der Wasser- und Süßigkeitenverkäufer, der hupenden Schiffe am Bosporus, der zirpenden Grillen.
Die Geräusche von Berlin klingen anders: Vogelgezwitscher, Motoren, Straßenbahn. Sie schreibt heiter, unpathetisch, mit leichter Hand. Probennotizen und genaue Dialoge vermitteln authentisch die Arbeitsatmosphäre großer Theatermacher von damals. Sie spiegeln politische Stimmungen wider, wie die aufgeregten Diskussionen um die Ausbürgerung Wolf Biermanns oder die Verhaftung Rudolf Bahros, des ökonomischen Querdenkers in der DDR.
Sie läuft stundenlang durch die Straßen, nimmt Gerüche und Geräusche auf, Gesprächsfetzen, Menschen-Geschichten. Ihre Eindrücke sind ganz von persönlicher, von fremder Sicht bestimmt. Daraus entstehen neue faszinierende Bilder jener Stadt, die dann 30 Jahre später eine völlig andere sein wird. Sie bekommt endlich ein DDR-Visum und muss hier bleiben, um es nicht zu verlieren. Sie hat nirgendwo ein Bett, schläft erstmal in Köpenick im Haus von Ursula Karusseit und Besson.
Da läuft sie zwischen den am Boden liegenden Büchern herum wie "auf einem türkischen Basar". Bei der Schauspielerin Gabi Gysi am Prenzlauer Berg findet sie ein Zuhause, Geborgenheit und Gleichfühlende. Sie treffen viele interessante Leute wie die Schriftstellerin Monika Maron und Katja Lange-Müller. Günter Gaus klagt über "die Kälte zwischen Ost und West". Diese Kühle, so schreibt die Türkin, passe ihr nicht. Die Freunde der West-WG besuchen sie. Träume von Zukunft werden beschworen, eine gemeinsame ist aber nicht mehr denkbar. Sie will ein Stück schreiben. Bei ihr ist Hamlet ein türkischer Bauer. Sie macht auf den Proben schöne filigrane Zeichnungen, die kauft der Theaterverband. Sie sind Teil dieses Buches und machen seinen Charme mit aus.
Dann der Schreck im November 1977. Besson verlässt die DDR. Er mahnt die junge Kollegin: "Man darf nicht zu lange in Deutschland bleiben. Komm nach Paris. Wir können zusammen arbeiten." Aber da ist noch Steve, die große Liebe aus Kopenhagen, der blonde Amerikaner, der sie heiraten will... Sie muss sich für ihr Leben entscheiden. So geschah es damals in Berlin. Vielleicht waren auch die Gefühle der gewaltsam zerschnittenen Stadt immer ein wenig dramatischer als anderswo. Stefanie Hoffmeister
Emine Sevgi Özdamar
Seltsame Sterne starren zur Erde.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2003;
247 S., 19,90 Euro