Egon Bahr über "deutsche Wege"
Eigentlich trägt das Buch einen falschen Titel. Im Kern geht es Egon Bahr bei seiner kritischen Analyse der Weltordnung überhaupt nicht um Schneisen für einen "deutschen Weg". Dem strategischen Kopf ist es vielmehr um die Stellung Europas in einem globalen System zu tun, in dem die USA die unangefochtene Hegemonie innehaben. Bahr sieht für Europa eine Chance zur Selbstbehauptung gegenüber der einzig verbliebenen Weltmacht: Indem sich der alte Kontinent als Zivilmacht profiliert und in dieser Rolle im Zusammenwirken mit der UNO nicht im Gegensatz zu Washington, sondern in einer Art "Arbeitsteilung" mit den USA agiert - und so auch einen eigenständigen, friedlich-präventiven Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus wie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen leistet. In diesem Kontext hat die Bundesrepublik ihren Part zu spielen: als "normaler Staat", der, mündig geworden, gegenüber Washington selbstbewusst seinen Teil beisteuert zu einem wachsenden Gewicht Europas in der Weltpolitik - "ein Deutschland im Dienste Europas".
Natürlich denkt der Autor auch von den Interessen seines Landes her. Das hat ihn stets umgetrieben. Der einstige Entwurf des Beraters von Willy Brandt für eine Entspannungspolitik unter dem Motto "Wandel durch Annäherung", die schließlich in die Wiedervereinigung mündete, hatte ja wohlbedachte nationale Belange im Auge - die nur auf dem Boden einer Friedensordnung zu wahren waren. Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges und nach den Terroranschlägen des 11. Septembers und dem US-Feldzug gegen den Irak, sieht die Welt ganz anders aus. Doch eine zentrale Frage beschäftigt Bahr noch immer: die nach Eigenständigkeit, nach Selbstbehauptung, nach Selbstbestimmung, nach Identität, ja nach "Würde", auch dieser Begriff taucht in dem Buch auf. Sich nicht "zum Spielball der Interessen anderer machen": Bahr findet so manche Wortwendung.
Es ist ein Genuss, zu lesen, wie Bahr - da ist und bleibt er ein großer Meister - schnörkellos und präzise die Dinge konsequent durchdenkt und zu Papier bringt. Nüchtern bringt er die militärisch absolute Vorrangstellung der USA auf den Punkt, spricht sogar von der "Hypermacht". Alle anderen, auch Europa, "sind Größen zweiten Ranges". Ohne den "Globalplayer" Washington läuft letztlich nichts. Aber heißt das Ohnmacht und Einflusslosigkeit für die andern?
Bahr findet es sinnlos, sich über diese alle und alles dominierende Macht jenseits des Atlantiks zu empören und aufzuregen. "Antiamerikanismus ist dumm", konstatiert er. Europa solle, so sein Plädoyer, den Vorrang Washingtons akzeptieren und auf dieser Basis die eigene Stärke ausspielen, nämlich die Fähigkeit zu friedlichen Konfliktlösungen durch ein Geflecht von Verträgen. Die Erinnerung an die "Erfahrung der Entspannungspolitik" mit ihrem Gewaltverzicht fehlt nicht - die im Übrigen auch durch die militärische Macht der USA gedeckt war, was in dem Buch sehr wohl erwähnt wird. "Arbeitsteilung" ist also keineswegs etwas Neues. Amerika, meint der SPD-Politiker, "kann auf Kriegsgewinn setzen, Europa muss die Rolle des Militärischen verringern wollen". Oder so: "Krieg ist der Feind Europas."
Auf diese Weise, so Bahrs Prognose, könnte Europa ein "Globalplayer" werden, "den die Welt nicht entbehren möchte". Nicht die erdrückende militärische Überlegenheit der USA in Frage stellen oder gar konterkarieren wollen, sondern im Zusammenwirken mit der UNO als Zivilmacht Raum schaffen für die Alternative vertraglicher Diplomatie: So könne Europa in der Weltpolitik Einfluss gewinnen. Bahr: "Wir haben nicht zwischen Unterwerfung und Feindschaft zu wählen." Mit dem Grundgesetz im Rücken, das die Teilnahme an einem Angriffskrieg ausdrücklich verbietet, kann die Bundesrepublik selbstbewusst eine solche Politik wesentlich befördern: So sieht er für Bahr aus, der "deutsche Weg".
Der Entwurf des Sozialdemokraten mutet fast wie eine Art theoretisches Konzept für eine Außenpolitik an, die in der deutschen Haltung und der Position des "alten Europa" während des Irak-Kriegs bereits erste konkrete Konturen gewann. Freilich ist die Theorie das eine, die Praxis das andere. Die USA scherten sich nicht um den Widerstand in Europa - und der Kontinent war zudem tief gespalten, stellte sich doch nicht nur London auf die Seite George W. Bushs.
Europa als Zivilmacht mit globalem Einfluss: Das ist noch ein weiter Weg. Bei der alten Enspannungspolitik war das etwas einfacher: Damals konnte Egon Bahr seine Strategie noch persönlich in die Tat umsetzen.
Karl-Otto Sattler
Egon Bahr
Der deutsche Weg.
Karl Blessing Verlag, München 2003; 158 S., 12,- Euro