Konferenz über das Verhältnis zum neuen EU-Mitglied
Die Polen würden ihr Negativ-Image in Deutschland als "notorische Diebe" nicht los, klagte Adam Krzeminski, Redakteur der polnischen Wochenzeitung "Polityka", auf einer Konferenz über die deutsch-polnischen Beziehungen im brandenburgischen Schloss Neuhardenberg: "Vor 60 Jahren haben sie Schlesien geklaut und vor zehn Jahren Autos; heute klauen sie Jobs."
Dass Polen seit dem Ende des real existierenden Sozialismus beispiellose Reformen bewältigt hat und einen beeindruckenden Wirtschaftsboom vorweisen kann, werde von vielen Deutschen ignoriert.
"Deutsche und Polen blicken nach Westen. Die Polen blicken dabei auf die Deutschen, die ihnen den Rücken zukehren und eifrig die Franzosen suchen", beschrieb der Publizist Peter Bender plastisch das Missverhältnis in der wechselseitigen Aufmerksamkeit: "Wenn ein Deutscher den Städtenamen Bordeaux falsch ausspricht, lachen seine Landsleute; wenn er Lódz korrekt ausspricht, nämlich ‚Wuhdsch', verstehen sie ihn nicht."
Umgekehrt nähren die Stiftung für ein "Zentrum gegen Vertreibungen" der Vertriebenen-Verbandschefin Erika Steinbach und die Aktivitäten der vor vier Jahren gegründeten "Preußischen Treuhand", die nach eigenem Bekunden Immobilien Vertriebener "in den preußischen Provinzen jenseits von Oder und Neiße" einklagen oder zurückkaufen will, in Polen die Furcht vor einem Wiederaufleben revanchistischen Gedankenguts in Deutschland. Davon zeugen ein Aufsehen erregendes Titelbild des Magazins "Wprost", das Steinbach in SS-Uniform rittlings auf Bundeskanzler Gerhard Schröder zeigte, ebenso wie die öffentliche Debatte darüber, ob der polnische Regierungschef Leszek Miller im Luftwaffen-Jet des Kanzlers zum EU-Beitrittsgipfel am 1. Mai nach Brüssel mitfliegen dürfe.
Nun räche sich, dass im deutsch-polnischen Vertrag von 1991 Besitzansprüche ausgeklammert wurden, bemerkte Anna Wolff-Poweska, Direktorin des West-Instituts in Posen: Die Frage, wem nach dem Zweiten Weltkrieg enteignetes Eigentum rechtmäßig gehöre, rücke wieder in den Vordergrund. Dabei drohe mit einer gegenseitigen Aufrechnung von Schuld ein Rückschritt auf den "geistigen Stand von 1943", warnte Adam Michnik, Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Und der Historiker Wlodzimierz Borodziej ergänzte, in Polen gewinne man langsam den Eindruck, dass für die Deutschen "zwischen dem Holocaust-Mahnmal und dem Zentrum gegen Vertreibungen die polnischen Kriegsopfer keine Rolle mehr spielen".
"Deutschlands moralische Verpflichtung gegenüber Polen läuft aus und wird durch kein anderes Motiv ersetzt; da tut sich eine Leere auf", bedauerte auch Janusz Reiter, ehemaliger polnischer Botschafter in der Bundesrepublik. Offenkundig stecken die deutsch-polnischen Beziehungen nach 15 Jahren gedeihlicher Zusammenarbeit zum EU-Beitritt Polens in einer Krise. Wie sie überwunden werden könne, war Thema der Tagung unter dem Titel "Ungeklärte Verhältnisse".
Bislang war das Verhältnis vor allem durch die Betonung einer gemeinsamen Zukunft geprägt: Seit 1989 verfolgten alle Regierungen in Warschau das außenpolitische Ziel einer Integration Polens in die westlichen Bündnisstrukturen von EU und NATO. Dabei wurden sie vom wieder vereinigten Deutschland tatkräftig unterstützt. Jetzt sei dieses Ziel erreicht, stellte Krzeminski fest: Es fehle an einer neuen strategischen Aufgabe für die Zukunft. Er erinnerte an die Gründung der Montanunion, als nach dem Krieg Bonn und Paris Teile ihrer Souveränität an eine supranationale Einrichtung abtraten, um die Aussöhnung voranzutreiben. Nach diesem Vorbild sollten Berlin und Warschau eine "neue Montanunion" zum Umgang mit der belasteten Vergangenheit bilden, empfahl Krzeminski: Eine deutsch-polnische Institution könne die Gräuel der Kriegs- und Nachkriegszeit unparteiisch aufarbeiten, um einen Rückfall in kleingeistige Nationalismen zu vermeiden.
Entsprechende Vorhaben seien bisher erfolglos geblieben, räumte der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel ein. Der Vorsitzende der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe machte geltend, dass der Bundestag bereits 2002 die Einrichtung eines europäischen Zentrums zur Dokumentation von Vertreibungen beschlossen hatte. Aufgrund des deutschen Wahlkampfs sei dieser Ansatz aber in der Folgezeit vernachlässigt worden und zudem in Polen und Tschechien auf wenig Gegenliebe gestoßen.
Dafür machte Wolff-Poweska einen Generationswechsel verantwortlich: Politiker, die noch den Krieg erlebt hatten und daher bereit waren, zugunsten der europäischen Einigung handfeste Zugeständnisse zu machen, träten von der Bühne ab; ihre Nachfolger betrieben eher kurzsichtige Interessen- und Klientelpolitik. Dabei seien "gewisse populistische und demagogische Gesten" nicht zu überhören, urteilte die Politologin.
Dies gelte für beide Seiten, konstatierte der christdemokratische Sejm-Abgeordnete Janusz Lewandowski: Deutschland fühle sich nicht mehr als starke Wirtschaftsmacht und wolle deswegen die EU-Ausgaben für die Neumitglieder begrenzen; in Polen mache sich nach Kräfte zehrenden Reformanstrengungen und zahlreichen Korruptionsskandalen Ernüchterung breit. Dennoch sei die Verflechtung beider Seiten so eng wie nie zuvor, gab er zu bedenken: Deutschland ist als Empfänger eines Drittels aller Exporte Polens wichtigster Handelspartner.
Wirtschaftsaustausch und politische Freundschaftsbezeugungen allein reichten aber nicht aus, um die sich fremden Gesellschaften einander anzunähern, mahnte Gesine Schwan. Mit ihren Erfahrungen als Präsidentin der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder empfahl sie, mehr binationale Initiativen auf die Beine zu stellen: "Nichts stiftet mehr Gemeinsamkeit zwischen Deutschen und Polen als die Identifikation mit gemeinsamen Projekten." Nötig sei eine "Geschichtspolitik", die durch "symbolisch-ästhetische Formen" das Bewusstsein für Verbindendes im beidseitigen "kulturellen Gedächtnis" verankere.
Am Zusammengehörigkeitsgefühl mangele es nicht nur Polen und Deutschen, sondern auch allen anderen Völkern Europas, hielten die Teilnehmer eines Diskussionsforums im Wissenschaftszentrum Berlin zur EU-Osterweiterung fest. Sie sei wirtschaftlich zwar zu bewältigen, doch die Union verliere allmählich ihre politische Orientierung, monierte der Politologe Volker Rittberger von der Universität Tübingen: "Es wird immer unklarer, was die EU eigentlich will." Ohne Verfassung, die praktikable Verfahren zur Entscheidungsfindung festlege, drohe die EU mit 25 Mitgliedern zu einem "losen Verbund von Nationalstaaten" zu degenerieren, folgerte der Jurist Gunnar Folke Schuppert von der Berliner Humboldt-Universität.
Daher müsse das zehn Jahre lang gültige Prinzip, zugleich die Erweiterung und Vertiefung der EU voranzutreiben, abgeschafft werden, forderte der ehemalige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz: "Jetzt ist der Punkt erreicht, von dem an eine weitere Ausdehnung der EU zu ihrer Überdehnung führen würde." Anstatt Länder wie die Türkei oder Israel, die formal alle Beitrittskriterien erfüllen könnten, in die EU aufzunehmen, solle Brüssel eher ihre Integration zu einer "demokratischen Levante" fördern. Andernfalls werde die Union in verschiedene "Verdichtungszonen" von Mitgliedern zerfallen, die enger miteinander kooperierten, warnte Schuppert: Eine derart "balkanisierte EU" wäre nicht mehr steuerbar. Oliver Heilwagen