Die spannende Chronik der Bundesrepublik Deutschland als Lebensgeschichte des Günter Gaus
Das erste Kapitel des Buches beginnt mit dem Ende der Bestrahlungen gegen seinen Krebs im Mai 2000, von denen er 43 ertragen musste. Gaus, Politiker, aber vor allem Autor, beschreibt die Behandlung minutiös. Diese Einführung in ein reiches, von Konflikten nicht verschontes Leben, schildert das Erschrecken des Autors darüber, dass es endlich sei. Auch für ihn. Ich erinnere mich, dass er mir gegenüber dieses Ausgeliefertsein mit dem Satz zu überspielen suchte: "Ich wusste ja bis jetzt gar nicht, ob sich Arzt mit tz schreibt oder nicht." Im Buch heißt es: "Obwohl ich von einer lebensbedrohenden Krankheit befallen war und mir an einer Gesundung sehr gelegen, blieb mein Interesse an medizinischen Kenntnissen gering. Ich entwickelte auch jetzt kein Bedürfnis, mitreden zu können mit den Fachärzten, Hämatologen und Radiologen, mit denen ich zehn Monate eng, sozusagen auf Leben und Tod, verbunden war." Er musste es auch in den Jahren darauf sein, mehr als ihm lieb war.
Vielleicht erklärt sich diese Haltung aus dem Gefühl des Davongekommenseins, das seinen Geburtsjahrgang 1929 prägte. Es war das Glück, überlebt zu haben, das diesen jungen Menschen, von denen viele im Zweiten Weltkrieg verheizt wurden, ein ausreichendes Startkapital für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost und West spendierte. 1929 sind unter anderem auch Christa Wolf und Wolfgang Ullmann zur Welt gekommen, mit denen Günter Gaus Freundschaft und Zusammenarbeit verband. Wer diese Vitalität nicht begreift, sollte auf den Soldatenfriedhof Halbe bei Berlin fahren und die Gräber von tausenden jungen Leuten besuchen, die mit 16 Jahren im Kampf gegen die Rote Armee sinnlos geopfert wurden.
Günter Gaus beschreibt eine entschwundene Welt, es ist die Welt der Kindheit in der Vorkriegszeit unter der Fahne des Hakenkreuzes. Er schildert seine Wurzeln, die Herkunft aus Braunschweigischen Bauernfamilien, aus denen mancher noch mit den Welfen sympathisiert, die als Könige von Hannover 1866 den Preußen unterlagen. Seine Eltern betrieben einen florierenden Obst- und Gemüsehandel, der im Laufe der Jahre immer besser lief. Gezeichnet wird dieses Zeitbild aus Fotografien, Gegenständen und Anekdoten, die typisch sind für Vertreter aus dem Kleinbürgertum, als dieser Begriff noch kein Schimpfwort war. Günter Gaus legt seine Erinnerungen weitgehend chronologisch an, was den Vorteil hat, die Entwicklung eines Menschen in Brüchen wie Konstanten zu verfolgen.
Zu Beginn des Krieges will der Halbwüchsige "aktiver Offizier" werden, wenn möglich bei der Marine. Sein Vater, der in der Blutmühle Verdun kämpfte, ließ ihn gewähren. "Vermutlich entwaffnete ihn das anhaltend Kindliche im Wesen des Halbwüchsigen, das um so mehr ins Auge sprang, je bedrückender die Zeitläufte wurden."
Schließlich verschlägt es Gaus mit seinen Kameraden vom Gymnasium ins holländische Zwolle, wo sie im Herbst 1944 Gräben gegen die nahegerückte Invasionsfront schaufeln müssen. An einem sonnigen Septembertag sehen sie über sich die größte Armada zwei- und viermotoriger amerikanischer Flugzeuge sowie hunderter Lastensegler. Die Armada fliegt gen Arnheim, wo sie von einer SS-Division blutig aufgerieben wird. Das Kriegsende erlebt der Autor in seiner zerbombten Heimatstadt. Er wird sein schuldloses Überleben später die "Gnade der späten Geburt" nennen, ein Begriff, der von manchem als willkommene Ausrede eigenen Versagens "missverstanden" werden wird.
Die Autobiographie von Günter Gaus ist eine präzise Beschreibung der Entstehung Westdeutschlands, des Hineinwachsens in die Bundesrepublik. Die Radtouren mit Schulfreunden ins Mainfränkische, die Tanzstunden in betont bürgerlichen Formen und zu kurzen Anzugshosen, der Besuch des Schwarzmarktes für eine Stange Zigaretten. "Der Erfahrungssturm, der sich aus den noch ganz lebendigen Erinnerungen an den Krieg erhob, wurde bald gebrochen von dem herrschenden Verlangen nach Privatheit und persönlichem Vorankommen."
In diesem schonenden Umgang des pluralistischen Systems mit den Menschen erkennt er den größten Vorzug dieser Art von Demokratie. Mit der stetig wachsenden Wirtschaftskraft Westdeutschlands "wuchs das Gefühl unter den Bundesbürgern, diesmal als Deutsche auf der richtigen, der stärkeren, der überlegenden Seite zu sein". Gaus erklärt aus dem Drang der kleinen Leute ans "Tonangebende" ihr "Menschenrecht auf Anpassung". Eine Formel, die ihm vor allem von Bürgerrechtlern aus der DDR später übel genommen werden sollte.
Nach einem kurzen Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in München, beginnt er 1950 seine Grundausbildung als Redakteur an einer Journalistenschule der bayerischen Hauptstadt, die vom damaligen Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung", Werner Friedmann, geleitet wird. Gaus bezeichnet ihn als einen Glücksritter, der sich in Kleidung und Habitus den Offiziersclubs der Amerikaner anzupassen suchte. Der junge Mann trägt seinerseits Kreppschuhe, wird Lokalreporter bei der SZ, schreibt außenpolitische Kommentare und lernt Leute kennen und schätzen wie den Chefreporter Hans Ulrich Kempski.
Ein Autor imponiert ihm besonders in seinen maßgeschneiderten Anzügen und handgenähten Schuhen, ein Emigrant mit ungarischem Akzent: Hans Habe. "Ein Herr von einem anderen Stern" mit "höchst fragwürdigem Charakter". Günter Gaus zitiert den Schriftsteller Robert Neumann, Habes Nachbar am Lago Maggiore: "Es stinkt der See, die Luft ist rein, Hans Habe muss ertrunken sein."
Von solcher Freude an Beobachtungen und Merkwürdigkeiten lebt das Buch. Gaus zitiert Chiffren, die einen Menschen charakterisieren. Den "Spiegel"-Chef Rudolf Augstein beispielsweise, der ihm telefonisch ein Stellenangebot mit dem Satz offeriert, er fühle sich so einsam. Der mit seinen Kollegen "auf einen Löffel Suppe" essen ging und häufig auf deren Tellern herumräuberte. Der Herbeitelefonierte wird, nachdem er Direktor für Hörfunk- und Fernsehen beim Südwestfunk war, Chefredakteur des Hamburger Nachrichtenmagazins. Mit seinen Fernsehinterviews zur Person, in denen er Politiker, Schriftsteller und Künstler befragte, hat er in Jahrzehnten ein Archiv der Worte und Bilder deutscher Nachkriegsgeschichte geschaffen.
In seiner Biographie verrät er, wie Adenauer in dem Gespräch mit ihm, von dem man stets nur den Hinterkopf sah, einen halbminütigen Blackout hatte, der herausgeschnitten wurde. Fairness war ein Prinzip des Interviewers, der Sternstunden des Fernsehens im Gedankenaustausch mit Hannah Arendt, Rudi Dutschke, Gustaf Gründgens schuf.
Ein Extra-Kapitel widmet Günter Gaus dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, mit dem ihn zeitweise eine enge Freundschaft verband. Kennengelernt hatten sie sich bei einem Essen. Gaus machte einige abfällige Bemerkungen über den restaurativen Charakter der Bundesrepublik. Wehner fuhr ihn an: "Mein Herr, wir lassen uns diesen Staat nicht vermiesen. Wir lassen uns nicht wieder von diesem Staat trennen, mein Herr. Es ist auch unser Staat." Aus dieser verletzenden, verwundeten Replik erwuchs gegenseitiger Respekt, ein TV-Interview mit dem vielverdächtigten Wehner wurde verabredet ("Das trauen Sie sich ja doch nicht"), die Familien verbrachten gemeinsame Urlaube auf Öland.
Günter Gaus, dieser pedantische Chronist mit dem poetischen Gemüt, hat seine Aufzeichnungen mit dem Eintritt ins Kanzleramt beenden müssen. Kein Wort mehr über seine Tätigkeit als Ständiger Vertreter außer den Vorbemerkungen im ersten Kapitel. Manch Zeitzeuge mag aufatmen, aber selten hat man ein Buch derart deprimiert aus der Hand gelegt, weil es keine Fortsetzung mehr geben wird. In den letzten Jahren war der Verstorbene Herausgeber der Ost-West-Zeitung "Freitag" und oft hat er seinen Standpunkt begründet, der seiner Lebensbeschreibung den Titel gab: "Ich bin doch nicht nach links gewechselt, die anderen sind nach rechts marschiert."
Günter Gaus
Widersprüche.
Erinnerungen eines linken Konservativen.
Propyläen Verlag, Berlin 2004, 380 S., 25,- Euro
Der Autor ist Leitender Redakteur der Wochenzeitung "Das Parlament".