Helmut Schmidt über künftige Mächtekonstellationen
Die weltweiten politischen, wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Zusammenhänge und deren Entwicklungen stehen im Mittelpunkt vieler Erörterungen. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt kann dabei nicht abseits stehen. In seinem neuen Band stellt er seine Sicht der künftig möglichen Mächtekonstellationen, deren Protagonisten und deren Mitwirkende mit geringerer Bedeutung im Kräftespiel vor.
An den Anfang seiner Überlegungen rückt er ein "düsteres Szenario", das all die Krisen, Konflikte und Kriege aufzählt, die heute die Politik beherrschen. Dabei geht es vor allem um den immer dramatischer werdenden Kampf gegen den Terrorismus und seine eventuelle Weiterung in einen Kampf der Kulturen: "Wo liegen die entscheidenden Veränderungen? Was sind die unverrückbaren Tatsachen? Was können wir von der Zukunft wissen - und was bleibt ungewiß? Was können wir tun? Was sollen wir tun?"
Trotz unterschiedlicher Perspektiven der Bedrohungen und Entwicklungen erkennt Schmidt vier wesentliche globale Gefährdungen, welche "die weitere Entwicklung maßgeblich beeinflussen:
Mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen dieser Gefährdungen müssten sich sowohl die Staaten und Regionen auseinandersetzen, die unmittelbar betroffen sind, als auch die, welche eine Politik der Regulierung und Konfliktbeschränkung betreiben könnten.
Nicht von ungefähr blickt Schmidt zuerst auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihre Stärken und Schwächen, ihre globale Dominanz, ihre strategischen Optionen bedeuten sowohl Chancen als auch Risiken. Aber eine unilaterale Vorgehensweise würde sich letztlich verbieten, wenn die USA erfolgreich und als Vormacht anerkannt sein wollten: "Je nachdrücklicher und rücksichtsloser Amerika Führung beansprucht und ausübt, um so mehr Ablehnung und Widerstand kann es provozieren. Umgekehrt wird Amerika um so erfolgreicher sein, je mehr man in Washington und New York auf die Interessen der anderen Staaten Rücksicht nimmt."
Zu den weiteren Entwicklungen der anderen Mächte folgt eine Analyse über China und den Fernen Osten, den Indischen Subkontinent, Russland, den "Islam, den Mittleren Osten und das Öl" sowie jene, die ohnmächtig am Rand der Welt existieren. Schmidt gibt hier eine breite Übersicht über die verschiedenen Bedingungen und Interessengegensätze in den Regionen. Sein Anregung lautet eindeutig, die Kraft und Prosperität Chinas nicht zu unterschätzen.
Zum Abschluss widmet sich Schmidt der schwierigen Selbstbehauptung Europas und konstatiert: "Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich die EU in einer tiefgreifenden Krise nicht nur ihrer Institutionen und ihrer außenpolitischen Handlungsfähigkeit, sondern zugleich auch ihrer ökonomischen und sozialen Strukturen" - auch deshalb, weil der Beitritt von zehn neuen Mitgliedern zwar die Einwohnerzahl der EU um 20 Prozent steigere, das gemeinsame Sozialprodukt aber nur um fünf Prozent wachse.
Deshalb sei eine längere Pause angebracht, um die EU zu reorganisieren und die Defizite zu bewältigen. Ein Beitritt der Türkei in die EU würde diesen Prozess jedoch hemmen, wenn nicht gar verhindern. Hingegen dürfte sich die EU keinesfalls als gleichrangig zu den USA entwickeln. Erstrebenswert sei vielmehr eine Aufarbeitung der "großen Probleme und Schwierigkeiten innerhalb des eigenen Hauses".
Trotz aller krisenhaften Strömungen: Europa, die USA und ihr Verhältnis zueinander sind die Hauptlinien des Bandes von Helmut Schmidt. So wie er sich kein einiges Europa ohne Frankreich und Deutschland vorstellen kann, so wichtig und erstrebenswert ist ihm eine gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit mit den USA - das "kann auch aus amerikanischer Sicht nur nützlich und erwünscht sein".
Helmut Schmidt
Die Mächte der Zukunft.
Gewinner und Verlierer in der Welt
von morgen.
Siedler Verlag, München 2004; 237S. 19,- Euro
Der Autor arbeitet als freier Journalist vorwiegend zu sicherheits- und militärpolitischen Fragen in Berlin.