Wie eine Kommunikation mit der arabischen Kultur beginnen könnte
In der politisch aufgeheizten Atmosphäre nach dem 11. September wurden die mutmaßlichen Täter zu einer bizarren Sekte irrationaler, todessüchtiger Weltuntergangsfanatiker stilisiert" beginnt der Berliner Orientwissenschaftler Thomas Scheffler seine Analyse. Mit diesen Bestien zu verhandeln - so die Schlussfolgerung - sei absurd. Als hätte es Hiroshima und Nagasaki nie gegeben, wurde den Attentätern eine "apokalyptische Vernichtungswut" zugeschrieben, gegen die nur ein endgeschichtlicher "Kampf gegen das Böse" (G.Bush) beikommen könne.
Kein Wunder, wenn machtbewusste Staatsmänner im Schutze dieser globalen apokalyptischen Stimmung ihre lokalen Kriege rechtfertigen. Putin will fortan "die Terroristen aus Tschetschenien vernichten", Bush sagt ihm auf dem Parteitag der Republikaner Hilfe aller Art zu. Anstelle einer exakten Bedrohungsanalyse hören die Bürger von den Entscheidungsträgern alarmistische Privatmeinungen. Kardinal Renato Martino, Vorsitzender des Päpstlichen Rates für "Gerechtigkeit und Frieden", überrascht mit der Zeitansage, wir befänden uns "im Vierten Weltkrieg", daher könnten auch "einige Bürgerrechte eingeschränkt werden". Der Kalte Krieg sei der Dritte Weltkrieg gewesen, gibt der Kardinal zu wissen, großzügig darüber hinwegsehend, dass der Kalte Krieg bekanntlich gerade durch eine aktive Verhandlungspolitik kein heißer wurde.
All diese Zeitdeutungen haben zu einer permanenten Hysterisierung der Bürger geführt. Schlimmer noch, die durchgängige Erklärung, die heute in vielen Regionen der Welt auftauchenden jugendlichen Attentäter hätten keine Religion, "keine Ideologie, kein Vaterland", seien nur vom Hass motiviert, erweist sich heute als fundamental falsch. "Es war gerade ihre Religion, die Mohammed Atta und achtzehn weitere Personen davon überzeugte, dass das Blutbad, das sie anrichteten, nicht nur ein ethisch gerechtfertigter Akt, sondern eine heilige Pflicht sei", fasst der Chicagoer Religionshistoriker Bruce Lincoln die Ergebnisse einer internationalen Expertise zusamen, die die Erfurter Religionswissenschaftler Kippenberg und Seidensticker jetzt herausgegeben haben.
Die Textanalysen widerlegen die bisherige neokonservative Annahme, "wer böse ist, kann nicht religiös sein". Religion spiele bei den neuen Terro-Akten keine Rolle, hatte der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky die deutsche Debatte resümiert. Für das grauenhafte Massaker, das am 11. September 2001 19 junge Männer verübten, existiert aber ein Dokument, das das Gegenteil erkennen lässt. Hans G. Kippenberg, Spiritus Rector der sensationell zu bezeichnenden Publikation, schreibt:
"Mohammed Atta, der die erste Maschine in den Nordturm des World Trade Center steuerte, war von Portland nach Boston geflogen und dort in die Maschine nach Los Angeles umgestiegen. Dabei war eine seiner beide Reisetaschen nicht mit umgeladen worden. In ihr fand man später einen mit der Hand geschriebenen arabischen Text: 'Lächle, mein junger Sohn, denn du marschierst zum Himmel'. So wendet sich ein nicht genannter islamischer Geistlicher an den einzelnen Täter und geht mit ihm die Stationen der vor ihm liegenden Tat durch: Die Nacht davor, dann auf dem Flughafen und schließlich in der Maschine. In der Nacht schwört der Täter, dass er zu sterben bereit ist, reinigt seinen Körper und rezitiert aus dem Koran Sure 9. Die Wahl dieser späten, vielleicht sogar der letzten Sure ist vielsagend. In Medina bildete sich der islamische Staat; Mohammed kündigte dazu die Verträge mit den Heiden auf und forderte seine Anhänger auf, sie anzugreifen und zu töten, wo immer sie sie antreffen (Sure 9,5). So uneingeschränkt hat keine der früheren Suren Gewalt gegen Nicht-Moslems verlangt. Ob mit ihr wirklich die toleranteren Aussagen früherer Suren aufgehoben worden sind oder nicht, ist unter Moslems umstritten. Der Geistliche sieht es so, und so auch der Täter des 11. September."
Der islamische Geistliche, der die Terror-Anweisung als religiöse Opfer-Handlung stilisiert hat, musste zu diesem Zweck entscheidende Passagen des Korans für seine politischen Bedürfnisse entstellen. Selbstmord ist im Islam eine schwere Sünde. Wer sie begeht, fährt zur Hölle. Die Tötung Unschuldiger ist gleichfalls verwerflich. Der anonyme Autor jener liturgischen Anleitung zum Attentat hat jedoch eine einzige Sure im Koran ausfindig gemacht, in der endzeitliches apokalyptisches Morden gerechtfertigt wird.
Der Band "Terror im Dienste Gottes" macht deutlich, dass die hier erstmals übersetzten Texte eine extremistische Ausnahme im Islam bilden, die zu isolieren eine große politische Chance besteht. Das geistliche Oberhaupt der libanesischen Schiitten, Ayatollash Fadlallah, gefragt, ob die Attentäter vom 11. September Märtyrer seien, antwortete eindeutig: "Nein, sie sind nicht im Dschihad, im Heiligen Krieg gefallen. Sie sind schlicht Selbstmörder."
Es sind solche eindeutigen Bekenntnisse zum zivilen Kern des Islams, die in die Weltbilder des Westens zurückgeholt werden müssen. Noch dominieren speziell in den USA eine latente Verachtung der arabischen Kultur und im Orient umgekehrt der Hass auf den "großen Satan" im Westen. Die Publikation verweist auf die gegenwärtige Dramatik: Entweder rennen die Religions-Kulturen des Westens und die der arabischen Hemisphäre weiter in manichäischer Todfeindschaft gegeneinander. Oder man beginnt - zum ersten Mal - jene inner-islamische Diskussion zu entdecken und mischt sich ein in jenen fremden Diskurs. Fragend, behutsam, aber doch auf eine Weise, dass die humanen Kräfte hüben wie drüben gestärkt werden und man - gemeinsam, in einer neuen interreligiösen Ökumene - all jenen im eigenen Lager in den Arm fällt, die aus den apokalyptischen Visionen ihr heiligen Bücher eine Aufforderung zur heroischen Selbstverteidigung herauslesen.
Statt weiter in pauschale Schuldzuweisungen zu flüchten ("Angriff auf die westliche Zivilisation"), wäre das der Anfang eines offenen Verstehens-Versuchs. "Auf lange Sicht kann der Westen nur überleben, wenn man auch um Herzen und Köpfe in der islamischen Welt kämpft", wie Otto Schily am 12. September auf der Jerusalemer Anti-Terrorismus-Konferenz bekundete.
Hans Kippenberg, Tilman Seidensticker (Hrsg.)
Terror im Dienste Gottes. Die "geistliche Anleitung" der Attentäter des 11. September 2001.
Campus Verlag, Frankfurt/M. 2004; 128 S., 14,90 Euro
Der Autor ist Theologe und Sozialwissenschaftler. Bis zu seiner Emeritierung war er Ordinarius an der Universität Bochum.