Jeremy Rifkins überraschendes Loblied auf Europa
Mit der Erweiterung um zehn Staaten zum 1. Mai 2004 wurde die Europäische Union zu einer politisch-wirtschaftlichen Institution, die als eigenständiger Akteur in den internationalen Beziehungen nun eine noch größere Bedeutung erhält. Jeremy Rifkin, US-Amerikaner und mehr als 20 Jahre Berater führender europäischer Politiker, sieht in der EU ein politisches System, das weit besser geeignet ist als das der USA, den Herausforderungen einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt erfolgreich zu begegnen.
Rifkin wendet sich vom Amerikanischen Traum ab und dem Europäischen Traum zu. Was versteht er darunter? Der Amerikanische Traum betont gemäß Rifkin wirtschaftliches Wachstum, persönlichen Reichtum und Unabhängigkeit. Dagegen konzentriere sich der Europäische Traum eher auf nachhaltige Entwicklung, Lebensqualität und wechselseitige Abhängigkeit.
Der Amerikanische Traum zolle der Arbeitsethik Tribut, während sich der europäische Traum stärker auf Freizeit und spielerische Entfaltung einstelle. Religiöses Erbe und tiefverwurzelte Spiritualität kennzeichneten den Amerikanischen Traum, während der Europäische Traum bis ins Mark weltlich sei, was sich auch in der neuen europäischen Verfassung widerspiegele. Schließlich sei der Amerikanische Traum an Vaterlandsliebe und Patriotismus gebunden, während Europa eher kosmopolitisch, weniger territorial ausgerichtet sei.
Amerikaner wären eher bereit, notfalls auf der Welt das zu schützen, was sie als ihre vitalen Interessen verstehen - und die Bush-Doktrin vom September 2002 gibt Rifkin in dieser Aussage Recht -, während Europäer bei Militäreinsätzen eher zögerten und Diplomatie, Wirtschaftshilfen und friedensstiftende Maßnahmen favorisierten, um Konflikte zu vermeiden und die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Den Amerikanischen Traum bezeichnet Rifkin als etwas zutiefst Persönliches, so dass man sich hier eigentlich kaum um den Rest der Menschheit kümmere. Dagegen sieht er den Europäischen Traum als raumgreifender an, der seinem Wesen nach systematischer und daher stärker auf das Wohlergehen des gesamten Planet fixiert sei.
So holzschnittartig diese Charakterisierungen auch sein mögen, Rifkin gibt in den 16 Kapiteln seines interessanten Buches immer wieder eindrucksvolle Belege für seine Aussagen. So sieht er etwas wehmütig, dass der Amerikanische Traum in eine Sackgasse geführt habe und sich viel zu sehr auf das persönliche materielle Vorankommen und zu wenig auf das allgemeine menschliche Wohlergehen konzentriert habe. Dagegen sieht er den Europäischen Traum als zukunftsträchtig an, der an der Schnittstelle zwischen Postmoderne und dem aufkommenden globalen Zeitalter angesiedelt sei. Den europäischen Traum bewertet Rifkin deshalb als so attraktiv, weil er sich auf Lebensqualität, Nachhaltigkeit, Frieden und Harmonie konzentriert.
In der ersten Hälfte des Buches befasst sich der Autor mit historischen Ereignissen sowohl in Europa als auch in den USA, wobei er die Unterschiede in der Entwicklung beider Kontinente aussagekräftig charakterisiert. Im zweiten Teil wendet er sich dem eigentlichen Thema, nämlich dem Europäischen Traum, zu. Da werden die "Vereinigten Staaten von Europa" ebenso problematisiert wie das besondere politische System der EU, wird die europäische Zivilgesellschaft gelobt, wird die Bedeutung der Universalisierung der Menschenrechte herausgearbeitet, das Altersproblem der meisten europäischen Staaten ebenso diskutiert wie deren potenzielle Lösungsmöglichkeiten etwa durch Einwanderung, wird die Besonderheit Europas, nämlich die Einheit in Vielfalt, dargestellt und schließlich die Rolle der EU als Friedensmacht skizziert.
Den Erfolg des Europäischen Traums macht Rifkin vom politischen Geschick wie auch vom menschlicher Psychologie abhängig. Anders als der Amerikanische Traum, der seinen Erfolg einer stabilen Verbindung von Eigentumsrechten, Märkten und nationalstaatlicher Regierung verdankte, bringt der Europäische Traum andere Dinge zusammen: "universelle Menschenrechte, Netzwerke und multiple Regierungsebenen". Menschenrechte sind die Normen, die die Netzwerkaktivitäten leiten.
"Die EU ist der Regulierungsmechanismus, dessen Verwaltungsautorität und moralische Legitimität den kontinuierlichen Dialog zwischen den Parteien ermöglicht, die den Traum vom globalen Bewusstsein voranbringen wollen". Für Rifkin ist der Europäische Traum bereits jetzt der moralisch überlegene, für den es sich zu leben lohne.
Jeremy Rifkin
Der Europäische Traum.
Die Vision einer leisen Supermacht.
Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2004;
464 S., 24,90 Euro
Professor Wichard Woyke lehrt Politikwissenschaft an der Universität Münster.