Volksdeutsche erinnern sich an die alte Heimat
Dagmar und Christel kamen mit ihrer Mutter aus Schlesien. Die ersten Jahre in der neuen Umgebung verliefen, den Umständen entsprechend harmonisch, doch mit der Zeit vertauschten sich die Rollen in der Familie. Die Kraft der Mutter ließ nach, Gefühle konnte sie nicht mehr zeigen. An diesem Umstand änderte auch die Tatsache nichts, dass sie in Westdeutschland ihr drittes Kind zur Welt brachte. Astrid blieb die Geborgenheit endgültig fremd. Die Kiste mit den Briefen und Fotos hat sie erst nach dem Tod ihrer Mutter geöffnet, während sich ihre Geschwister vor Ort in Breslau oder in Yad Vashem aktiv der Vergangenheit stellten.
Das andere Kapitel handelt von Günter, der 1964 mit der Aufarbeitung seiner Familiengeschichte begann. Da die freie Ausreise aus der DDR in das benachbarte "Bruderland" nicht gestattet war, besorgte er sich auf der Leipziger Buchmesse von einer fremden Polin eine Einladung. Zunächst machte er Halt in Auschwitz, dann fuhr er in seine Geburtsstadt Lodz. Hier lebte er bis zur "Kinderlandverschickung" vom August 1944, als die Rote Armee bereits kurz vor Litzmannstadt stand. wie die Stadt damals hieß.
Zuerst die Konfrontation mit dem Unmaß deutscher Verbrechen, dann das Schicksal der Volksdeutschen waren für ihn eine schmerzhafte Erfahrung. Dennoch ist er immer noch von den positiven Erinnerungen an die neue Leipziger Heimat überwältigt. "Wie in Lodz redete die Mutter weiter im Lodzer Deutsch, sprach von Pomidoren statt von Tomaten, von einer Tetschke statt von einer Aktentasche (…). Der Vater rezitierte weiter russische Gedichte, die er als Schüler noch unter zaristischer Herrschaft gelernt hat." Dass die Idylle verschwand, begriff er in dem Moment, als der Vater aufhörte, mit ihm Fußball zu spielen. Später schimpfte er viel auf die Juden. Lange konnten die Missverständnisse nicht geklärt und besprochen werden. Heute besucht der Hobbyhistoriker Günter Kurse an der Humboldt-Universität.
Hingegen sind die Eheleute aus Böhmen und Ungarn, die sich nach dem Krieg in Karl-Marx-Stadt kennen gelernt haben, regelmäßige Besucher in ihrem tschechischen und ungarischen Heimatdorf. Beide haben sich mit ihrer Vergangenheit versöhnt. Ohne Verbitterung und Hass erzählen sie über das kleine Pschoblik und Bátaszék, beides winzige Orte, die von dem Wüten der Geschichte heimgesucht wurden.
Im Kindergarten hörte Josef zum ersten Mal von Russen und Juden. Sie wurden als die größten Feinde der Sudetendeutschen dargestellt. In das Dorf, das früher dem Habsburger, später dem Deutschen Reich angehörte und auf dessen Hauptstraße seit 1942 die Wlassow-Leute für Disziplin sorgten, marschierte 1945 die Rote Armee ein. Nach der Mitgliedschaft in der NSDAP wurde nicht einmal gefragt. Die Volksdeutschen mussten so oder so gehen. Joseph Tscherner, bewacht von tschechischen Militärs, saß im Frühjahr 1946, Elisabeth Schuszter im Winter 1948 mit einer Gruppe von Ungarndeutschen in dem Zug Richtung Ostzone. Elisabeth wurde von den Mitschülern verständnisvoll verabschiedet. Die Vertreibung nennt sie heute Aussiedlung.
Auch eine andere Protagonistin schwärmt von ihrer baltischen Heimat, obwohl sie diese als kleines Kind zweimal, 1939 und erneut 1945, verlassen musste. Der zweite Abschied war trauriger. Diesmal führte der Weg über die Trümmerfelder von Dresden in die amerikanische Zone. Man suchte dort nach anderen Baltendeutschen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit half bei vielen, die Anfangsschwierigkeiten zu überwinden. Das war aber eher untypisch.
"Mit Dingen, die ich nicht verändern kann, muss und will ich mich abfinden. Das Schlimme erscheint dann nicht mehr so schlimm, manchmal verschwindet es sogar aus dem Gedächtnis" - erzählt der Karpatendeutsche Alfred, der mehr als ein halbes Jahr in einem slowakischen Lager halbverhungert auf seine "Ausreise" wartete. Seine Schwester wurde in Deutschland als "Flüchtling" beschimpft. Die Integration, wenn es sie überhaupt gab, datiert sie auf die 90er-Jahre.
Diese Familiengeschichten werden wie Puzzleteile in die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts eingebettet. Als profunde Kennerin ihres historischen Umfelds und der Psyche ihrer Befragten gestaltet Helga Hirsch diese Portraits. Auch ihr Vater stammt aus Breslau, auch sie hatte das Bedürfnis, nach der Lebensgeschichte ihrer Familie zu forschen. Doch der Bruch des Schweigens vollzog sich bei ihr lange Zeit nicht von selbst, eine jüdische Freundin half ihr dabei. "Ich spürte Dankbarkeit, weil Miri mir die beglückende Erfahrung schenkte, dass ich meine Geschichte erzählen durfte, ohne mich schuldig zu fühlen."
Helga Hirsch
Schweres Gepäck.
Flucht und Vertreibung als Lebensthema.
Edition-Körber-Stiftung, Hamburg 2004; 256 S., 14,- Euro
Andrea Dunai arbeitet als freie Journalistin vorwiegend zu den Themen Osteuropa und Zeitgeschehen; sie lebt in Berlin.