Antisemitismus in Deutschland
Warum war Deutschland der Ort der Tragödie, obwohl doch zumindest Abneigung und vielfach Feindseligkeit gegenüber Juden in ganz Europa verbreitet waren?" Der französische Historiker Burrin untersucht diese Frage - nach einer Skizze wichtiger Positionen der Literatur - in drei Schritten: Im ersten geht er in der Geschichte des Antisemitismus in ganz Europa bis ins Mittelalter zurück, im zweiten stellt er die Dynamik von Judenfeindlichkeit und NS-Identität dar, die nach 1933 entwickelt wurde, und im letzten konzentriert er sich auf Apokalypse und Ressentiment der Kriegszeit.
Im ersten Abschnitt sind die Vergleiche mit dem französischen Antisemitismus besonders erhellend, in denen Burrin als Besonderheiten der deutschen Seite das ethnische und das religiöse Element sowie die Rolle der autoritären Kultur herausarbeitet. Im Abschnitt über die Konstruktion der NS-Identität betont er die Rolle der Ideologie und den für Hitler apokalyptischen Charakter des Kampfes gegen die Juden.
Die Mehrheit der Deutschen ging seiner Meinung nach nicht zum radikalen Antisemitismus über; die Schaffung der "Apartheidsgesellschaft" nach 1933 stieß aber auf keinen Widerstand. Auf dem Weg zum Genozid war der Krieg ein unumgänglicher Schritt: Hitler hatte 1939 die "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" für den Fall des Weltkriegs prophezeit, und der Massenmord machte nun darüber hinaus deutlich, "dass dieses Regime die Brücken hinter sich abbrach und bis zum Ende kämpfen würde".
Drei Fragen an den Autor seien notiert. Er stellt heraus, dass Deutschland "unter einer Identitätskrise litt" (S. 56). Aber setzt nicht, wie Mark Levene jüngst in der in der "Zeitschrift für Weltgeschichte" fragte, diese passive Formulierung den aktiven Anteil der Eliten an dieser Identitäts-Krise zu niedrig an? Dann: sieht Burrin die Differenz zwischen Rasse und Volk bei Hitler klar genug (S.62) ? Der hatte ja Gobineau wahrgenommen und kannte die Furcht, dass im deutschen Volk eher wenig Menschen "nordischer Rasse" vertreten seien.
Und schließlich: hat die Polykratie-These nicht doch mehr für sich? Burrin schreibt korrekt (S. 94), Hitler habe Ende 1941 beschlossen, die sowjetischen Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter einzusetzen; deren Hungertod wurde aber weithin erst nach diesem Datum (es war der 14.Oktober) herbeigeführt.
Burrin stellt die "Dialektik der den Juden zugeschriebenen negativen Bilder und das positive Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft" in das Zentrum seiner Analyse. Dieser Ansatz zur Erklärung des deutschen Genozids wird knapp und gut lesbar durchargumentiert - ein wichtiger Beitrag zur Debatte.
Philippe Burrin
Warum die Deutschen?
Antisemitismus, Nationalsozialismus,
Genozid.
Aus dem Französischen von Michael Bischoff
Propyläen Verlag, Berlin 2004; 143 S., 16,- Euro
Professor Hans-Heinrich Nolte ist Emeritus für neuere Geschichte an der Universität Hannover und Mitherausgeber der "Zeitschrift für Weltgeschichte".