Profidemonstrant vor Reichstag
Die Demonstration. Sich stundenlang durch die Straßen wälzende Menschenmassen, Parolen grölend, Schilder schleppend, und wenn es ganz schlimm kommt, dann regnet es auch noch. Es ist nass, es ist kalt, es ist eine anstrengende Angelegenheit, die eigene Meinung unters Volk zu bringen. Warum sich so viel Stress antun, wenn es auch viel bequemer geht? Demonstrieren kann doch so einfach sein. Gut, dass kein Lüftchen weht, als Daniel Buchholz vor dem Reichstag das Schild der Demokratie aufrichtet. 15 Kilo wiegt das Ding und kann erheblich ins Wanken geraten, wenn die Wetterlage stürmisch ist. Aber weil das Wetter schön und Daniel Buchholz jung und obendrein professionell ist, kann er sonnenbebrillt und entspannt seine Meinung hochhalten: "Mehr Demokratie - Volksabstimmung erleichtern." Was heißt seine Meinung? Eigentlich ist es die Meinung von Stefan Pfeiffer aus Fulda, erklärt Daniel Buchholz. Denn Stefan Pfeiffer wünscht sich zwar mehr Volksabstimmung, ist aber leider nicht vor Ort, vielleicht hat er auch einfach zu tun. Nur gut, dass es Daniel Buchholz gibt, vor kurzem noch arbeitslos, heute schon Berufsdemonstrant im Herzen der Republik: Bis Januar 2005 will er fünf Mal die Woche von 10 bis 18 Uhr vor dem Reichstag stehen und protestieren, gemietet von der Münchner Werbeagentur Sassenbach Advertising. Derzeit muss er sich jedoch einen anderen Wirkungsort suchen, da er vor dem Reichstag einen Platzverweis erhalten hat. Das Ordnungsamt Berlin erkannte in dem Unterfangen eine kommerzielle Veranstaltung im öffentlichen Raum - und hierfür benötige man eine Sondergenehmigung. Ein Rechtsanwalt kläre nun, ob das Verbot zulässig sei, teilte die Agentur mit.
Die Idee ist schräg. Agenturchef Thomas Sassenbach fand, man müsse der Jugend, die immer unpolitisch geschimpft wird, ein Forum geben - und schenkte ihr eins. Jetzt können Jugendliche und andere Menschen im Internet Parolen für die Tagesdemo vorschlagen, über die dann ganz basisdemokratisch per SMS oder E-Mail abgestimmt wird: Die Siegermeinung wird am nächsten Tag vor dem Reichstag hochgehalten. Nur Extremmeinungen werden vorher aussortiert, ansonsten kommt je nach Nachrichtenlage alles vor: Lafontaine und Hartz, Rente und Reform, rechts und links. Bei www.mein-demonstrant.de sieht Politik allerdings ziemlich trendig aus: schick gestaltete Webseiten mit jeder Menge Fotos von Daniel Buchholz und seinem Kollegen André Gäbler, die beide gut aussehen und orangefarbene T-Shirts mit der Aufschrift "Ich bin dein Demonstrant" tragen. Während der eine die Parole hält, dokumentiert der andere die Mietdemo per Handykamera. Das muss so sein, denn weil um den Reichstag eine Bannmeile ist, darf hier nur jeweils eine Person ihre Meinung äußern. Also wird im Schichtbetrieb demonstriert, und die Bilder zackzack ins Netz geschickt - die Demo als Live-Event im Internet. Das kommt an. Im Schnitt stimmen 150 Leute täglich ab, sagt Carmen Wiegand, die das Projekt betreut. Die Werbeagentur, die hauptsächlich Jugendliche als Zielgruppe betreut, ist zufrieden, schließlich hat die Investition den eigenen Bekanntheitsgrad erheblich erhöht. Politik als PR-Gag.
Vor dem Reichstag sind die Meinungen darüber geteilt. Zwei junge Mädchen finden die Aktion gut, eine ältere Frau auch, aber nur solange, bis sie hört, dass der engagierte junge Mann gemietet ist: "Man sollte sich schon selber für seine Meinung hinstellen." Sollte man, aber tut nicht jeder. Dass die Mietprotestler die gute alte Demo-Kultur ruinieren, glaubt André Gäbler nicht: "Klar, das ist eine Serviceleistung wie der Pizzabringdienst. Aber das ist doch nur eine Form von Demonstration." Sich mit einem Fremdslogan hin zu stellen, ist für ihn auch kein Problem: "Ich seh das ganz pragmatisch als Job, mein Gewissen ist rein." Egal ob "Leben darf kein Luxus sein", "Lebst du noch, oder sparst du schon?" oder "BWL als Schulfach", auch Daniel Buchholz steht zu seiner Fremdmeinung. "Warum nicht? Das ist ja nicht meine Meinung, ich repräsentiere diese Meinung nur." Gelebte Meinungsvielfalt sozusagen. Das erklärt er dann auch den Leuten, die ihn ansprechen und manchmal auch fotografieren.
Aber eigentlich stehen die beiden auch nicht als Touristenattraktion für die Reichstagsbesucher herum, sondern für die Parlamentarier. Die sollen aus ihrem Bürofenster auf das Plakat und damit dem Volk in den Kopf schauen. "Jeden Tag vor dem Reichstag, das bewirkt Aufmerksamkeit", glaubt Daniel Buchholz. Und weil die Aktion so erfolgreich ist, denkt man in München schon über Expansion nach. Rom, London und Paris prüft die Werbeagentur als Proteststandort. Was zu meckern gibt es ja überall.