Zehn deutsche Städte wollen Kulturhauptstadt Europas werden und die örtliche Kulturszene einbinden
Als erste trugen die bekannten Kulturmetropolen des Kontinents den Titel. Die griechische Kulturministerin Melina Mercouri hatte ihn 1985 für die Orte ausgewählt, aus denen sich der Strom der Europäischen Kultur speist. Doch schon bald erkannten die Kommissare in Brüssel, dass Kulturhauptstadt nur werden sollte, wer es in den Augen der Weltöffentlichkeit noch nicht ist: Ein gigantischer Ölverladeterminal zwischen hässlichen Zweckbauten, ein flämisches Freilichtmuseum, eine arbeitslose Industriestadt im nördlichen Nirgendwo der französischen Republik, ein verrotteter Hafen unter der ligurischen Autobahn, ein verschlafenes Seniorenheim am Südostrand der Alpen oder eine irische Kleinstadt, deren Namen auf dem Festland kaum jemand kennt: Rotterdam (2001), Brügge (2002), Graz (2003), Lille und Genua (2004), oder Cork (2005). Die meisten nutzen den Titel "Europäische Kulturhauptstadt für ihr Coming Out als lebendige Metropole des modernen Europa".
"Willkommen im schönsten Grazer Vorort" plakatierten die Werber für die Europäische Kulturhauptstadt 2003 an den Wiener Einfallstraßen. Die Kulturschickeria der Hauptstadt staunte: Das angebliche Rentnerdorf jenseits der Berge ("nicht viel größer als der Zentralfriedhof, aber doppelt so tot") legte ein backsteindickes Kulturprogramm mit namhaften Ausstellungen, Theateraufführungen, Open-Air-Events und Stadtgeschichte im Stollen auf: Begeistert brachten die Grazerinnen und Grazer 100.000 Andenken des Alltags in den "Berg der Erinnerungen" unter den Schlossberg. Krimiautor Mankell schrieb den Grazern ein eigenes Stück zum Kulturhauptstadtjahr.
In ihre Altstadt, ein Weltkulturerbe, ließen sich die Grazer mit dem neuen Kunsthaus einen "freundlichen Außerirdischen" bauen. Kosten für das angebliche Vorzeigestück der Architektur im 21. Jahrhundert: Rund 40 Millionen Euro. Dazu gönnte man sich eine neue Stadthalle und eine schwimmende Insel im Flüsschen Mur. Mehr als 300 Leute fassen Café und Konzert-raum auf der rund fünf Millionen teuren, stählernen Insel, die nachts blau auf dem grünen Wasser leuchtet. 170 Millionen Euro kosteten die Neubauten und Renovierungen für das Kulturhauptstadtjahr. Das Programm schlug inklusive aller Einzelprojekte und der Vermarktung mit fast 60 Millionen zu Buche.
"Geblieben ist wenig", mault Chefredakteur Markus Ruthardt in der örtlichen Zeitung "Steirer Krone": Die Murinsel verkomme zur Stahlruine. Geblieben sei das Gefühl, sich übernommen zu haben und 700 Millionen Euro Schulden. "Knapp zwei Drittel der Grazer erachten die Kulturhauptstadt-Investitionen als finanziell unrentabel" zitiert "Die Presse" eine Umfrage unter 200 Bürgerinnen und Bürgern der Stadt. Gleichzeitig fanden 90 Prozent, dass 2003 zu einem positiven Image der Stadt beigetragen habe.
"Mir jammern immer, wenn ma a Geld ausgebn ham, so san die Österreicher", lästert ein Exilgrazer, der im Nachbarland Kärnten als Kellner sein Geld verdient. 2003 sei doch "fantastisch gewesen" und "ein Riesengewinn" für seine Heimatstadt.
Auf 26 Millionen Euro beziffert das Joanneum Research Institut den Umsatzzuwachs der Grazer Wirtschaft durch das Kulturhauptstadtjahr. Direkte und indirekte Wirtschaftsimpulse summierten sich in der Steiermark auf eine Bruttowertschöpfung von 76 Millionen Euro. Entgegen dem österreichischen Trend übernachteten in Graz 2003 fast ein Viertel mehr Gäste als im Vorjahr. Nicht nur für ihre freche Werbung hat die Graz-2003-Gesellschaft 20 internationale Preise abgeräumt, darunter den Globe Award für das weltweit beste Tourismusprojekt.
"2003 hat Graz gut getan", bilanziert die Vorsitzende des Fremdenführerclubs Melitta Ranner. Noch nie habe sie eine so fröhliche Stimmung erlebt, wie beim Eröffnungsfest am 9. Januar. Geblieben seien ein neuer Muruferweg, zahlreiche neue Cafés und die Gewissheit, dass "ganz Österreich auf uns aufmerksam geworden ist". Die zehn deutschen Bewerber um den Kulturhauptstadt-Titel wollen aus den Grazer Fehlern lernen. "Wir wollen zeigen, wie eine kleine Stadt mit wenig Geld ein solches Ereignis realisieren kann", verspricht Lübecks Kultursenatorin Annette Borns. Wenn die Stadt den Zuschlag bekomme, würde sie all die Dinge machen, die ohnehin schon auf der Kulturagenda stehen: Zum Beispiel das Buddenbrock-Haus sanieren. Auch der Regensburger Kulturhauptstadtbeauftragte Wolf-Peter Schnetz erklärt sich zum "Gegner der Eventkultur". Stattdessen will er Bestehendes fördern und vernetzen. Schon die Bewerbung bringe "einen großen Schub für die rund 5000 Kulturschaffenden in der Stadt, die sich untereinander bisher kaum kennen". Ähnliches berichten die anderen Bewerber.
Alle zehn Kulturhauptstadtbüros wollen die örtliche Kulturszene einbinden und keine teuren Strohfeuer inszenieren. Sie wollen neben dem Imagegewinn und der internationalen Medienaufmerksamkeit Sponsoren dauerhaft an ihr Kulturangebot binden und die regionale Identität stärken. Viele Schlossbewohner kennen ihr Schloss nicht", bemerkt Wolf Peter Schnetz in Regensburg. Andere sehen im "Alleinstellungsmerkmal Kulturhauptstadt" einen "Katalysator für Stadtentwicklungsprojekte" wie den Kreativpark Ostaue in Karlsruhe oder gar die Schnellzugverbindung Paris-Karlsruhe-Budapest.
Der Kommunalverband Ruhrgebiet erinnert an die Internationale Bauausstellung Emscherpark. Das Architekturereignis habe das Revier nachhaltig verändert und die 53 Kommunen im "Pott" zusammengeführt. Gleiches erhoffen sich die Braunschweiger, die sich als Region mit Wolfenbüttel, Salzgitter, und anderen Gemeinden bewerben. Die Identifikation mit der Region schafft Selbstbewusstsein, das die Kommunen im wachsenden Wettbewerb der Regionen Europas benötigen.
"Braunschweig wird bekannt wie nie zuvor", hofft Oberbürgermeister Gert Hoffmann, und die Bewerberstadt Kassel hat den "stadtgesellschaftlichen Aufbruch" ausgerufen.
Alle blicken sie nach Graz und nach Weimar. 1999 erhielt das Klassik-Städtchen auf Wunsch von Helmut Kohl und Francois Mitterand den Titel ohne Wettbewerb. Statt sonst zwei Millionen zählte die Stadt mit ihren 64.000 Einwohnern 1999 3,5 Millionen Touristen. "Wir würden uns jederzeit wieder bewerben", versichert der Oberbürgermeister. Stadtkulturdirektor Felix Leibrock nennt das Kulturstadtjahr einen "Glücksfall". Inklusive der privaten Mittel seien 500 Millionen Mark in die Stadt geflossen, die "wir sonst nie bekommen hätten". Inzwischen wissen die Stadtväter und -mütter auch, dass man manche Geschenke lieber ablehnen sollte, wenn man die Folgekosten nicht bezahlen kann. Wir haben viele alte Gebäude saniert. Jetzt fehlt uns das Geld für die Kultur, die darin stattfinden soll", bilanziert Leibrock.
Die zehn Bewerber für 2010 versuchen sich in der Quadratur des Kreises: Sie sollen große Events, die international Furore machen, aus leeren Kassen finanzieren, nachhaltigen Gewinn für die örtliche Kultur aus einem Jahr Kulturhauptstadt schöpfen, Neues schaffen und bestehende Kulturangebote erhalten.
Was dem vergleichsweise reichen Karlsruhe schwierig erscheint, könnte Bremen, Halle an der Saale oder Görlitz überfordern. Mit 14.500 Euro je Einwohner meldet die Hansestadt zusammen mit Bremerhaven die höchste Verschuldung aller Bundesländer. Görlitz, das sich zusammen mit der polnischen Nachbarstadt Zgorzelec bewirbt, hat erst im vierten Anlauf einen legalen Haushalt zustande gebracht. Nun bangt die Stadt um die Finanzierung ihres deutsch-polnischen Brückenparks, dem Kernstück ihrer Kulturhauptstadtbewerbung. In Halle, der ehemaligen Chemiestadt der DDR, steht ein Fünftel der Wohnungen leer. Vor allem junge Leute, die einen Job suchen, ziehen in den Westen. Dennoch haben sich die Bewerber mächtig ins Zeug gelegt. Rund zwei Millionen Euro haben Karlsruhe und Bremen in ihre Bewerbung investiert. Lübeck kam mit 200.000 Euro aus. Die Kosten für ein Kulturhauptstadtprogramm veranschlagen die Verantwortlichen auf 30 bis 70 Millionen. Was dann von der großen Sause übrig bleibt wird sich zeigen.
Info: www.kultur2010.de - umfassendes Infoportal der Agentur culturebrand zu den deutschen Kulturhauptstadtbewerbungen mit zahlreichen Links