Die Grünen ziehen auf ihrer Kieler Bundesdelegiertenkonferenz Bilanz und markieren den Weg bis 2006 / Von Detlev Lücke
Den Weg zum Wahlerfolg in zwei Jahren will die Partei über die Fortsetzung der rot-grünen Koalitionen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen erringen, wo im Februar beziehungsweise Mai 2005 gewählt wird. Dieses Ziel nahmen sowohl die grünen Bundesminister Künast, Trittin und Fischer wie auch Parteichef Reinhard Bütikofer ins Visier. In einer emotionalen Rede forderte Außenminister Joschka Fischer: "Wir dürfen dieses Land nicht einer falschen Politik überlassen, die kaputt macht, was wir an Reformen gemacht haben." Der Sozialstaat sei ein Begriff der Zukunft und keine Vergangenheitsbeschreibung. Die CDU wolle ihn zertrümmern. "Die anderen werden Reformen mit der Kettensäge machen", rief er unter dem Beifall der Delegierten aus. Bündnis 90/Die Grünen seien eine gesamtdeutsche Partei und sollten dem Aufteilen in Ossis und Wessis offensiv entgegentreten.
Als Symbol des Parteitages leuchtete ein großes, grünes Ampelmännchen in die herbstkühle Ostseehalle und vermittelte entsprechende Aufbruchstimmung, im Gegensatz zu dem absaufenden Grünmännchen, das unlängst die Titelseite des "Spiegel" zierte, der sich, wenn es um Deutschlands Osten geht, gern vom Sturmgeschütz der Demokratie in eine Stimmungskanone verwandelt. Kurioserweise sprach zur Eröffnung Kiels Oberbürgermeisterin Angelika Vollquartz, die einem schwarz-grünen Bündnis vorsteht. Sie pries diese Konstellation als Symbol "für eine neue Beweglichkeit" und verband sie mit dem Bekenntnis, Querdenker seien gefragt. Die scheinen aber in Bezug auf derartige Wege weder in der eigenen Partei noch bei den Grünen momentan große Konjunktur zu haben. Kiel übte sich im demonstrativen Schulterschluss mit der SPD, und die Wahlergebnisse der jüngsten Zeit scheinen dieser Haltung mehr als Recht zu geben. Parteichef Bütikofer erinnerte denn auch in seinem Rechenschaftsbericht daran, dass man wieder in die Landtage von Sachsen und dem Saarland hineingewählt worden sei. Er bezeichnete es als "einen strategischen Durchbruch" in zwei Jahren grüner Erfolge. Seine Frage, wie das bessere Land aussehen solle, von dem alle überzeugt seien, dass es geschaffen werden könne, beantwortete er selbst mit dem Hinweis, es gehe darum, den richtigen Weg zwischen Strukturkonservativismus und radikaler Marktwirtschaft zu finden. Das bedeute mehr Gerechtigkeit "auf dem Boden von Reformen, nicht bei Vermeidung der Reformen". Die Bürgerversicherung, ein grünes Spezialprojekt, sei inzwischen ein Programm für viele und eine Alternative zum neoliberalen Weg nach rechts.
Bütikofer beschrieb damit den nicht immer krisenfreien Weg der beiden Koalitionspartner, von denen die SPD sich Umweltfragen öffnen musste und die Grünen dem sozialen Bereich. Vor diesem Hintergrund meinte die Fraktionschefin der Bündnisgrünen im Bundestag, Krista Sager, es sei letztendlich egal, wer in der Regierung Koch und wer Kellner sei, wenn die Rechnung stimme. In welcher Küche gekocht werde, verriet sie allerdings nicht. Sie unterstrich den Anteil ihrer Partei an der Regierungsarbeit, die grünen Minister hätten "dem Erfolg nicht in Kuschelministerien entgegengedämmert". Wie andere Redner auch bezeichnete sie die Bildungsfrage als Kernpunkt sozialer Gerechtigkeit in Deutschland.
Bundesumweltminister Jürgen Trittin warf der Union vor, soziale Besitzstände wie den Kündigungsschutz streichen zu wollen. Bei der nächsten Bundestagswahl gehe es auch um die Alternative, mit Rot-Grün den Sozialstaat zu reformieren oder "ihn per Ellenbogengesellschaft" abzuschaffen. Wie Krista Sager und Vebraucherschutzministerin Renate Künast sprach sich Jürgen Trittin energisch für die Abschaffung der Eigenheimzulage aus, um die dadurch frei werden Mittel in den Bildungsbereich umzuleiten. Der Union warf er ein Energiekonzept aus den 60er-Jahren vor.
Angesichts der Stabilisierungsphase des Koalitionspartners SPD in den vergangenen Wochen bei Wahlen und in Umfragen äußerten sich zahlreiche Redner auf dem Parteitag optimistisch, dass sich der Trend zugunsten von Rot-Grün wenden werde. "Die Stimmung schlägt Stück für Stück um", meinte Reinhard Bütikhofer. Nicht alle Delegierten drückten ihre Ablehnung christdemokratischer Politik derart drastisch aus wie Markus Kurth, der der CDU vorwarf, sie habe ihre Tarnkappe abgenommen und betreibe sozialpolitischen Kannibalismus. "Arbeitende Menschen sind keine Nutztiere", rief er aus.
Angesichts solcher Statements gab es in Kiel keine Träumereien an schwarz-grünen Kaminen, wie es die Bundestagsfraktionsvorsitzende Kathrin Göring-Eckardt noch im Frühjahr 2004 vor den Thüringer Landtagswahlen unternommen hatte. Mag sein, dass ihr schlechtes Wahlergebnis für den grünen Parteirat, das vier Wahlgänge erforderte, eine dezente Abstrafung für derlei Überlegungen war. Außenseiter wie der Baden-Württemberger Oswald Metzger, der sich auf dem Parteitag gegen die geplante Bürgerversicherung seiner Partei wandte, fanden zumindest offiziell nur Zustimmung im Nanobereich.
In Kiel verabschiedeten die Grünen sechs Forderungen zur sozialen Erneuerung Deutschlands. Dazu zählen die höhere Besteuerung von Erbschaften, der Kampf gegen Steuerhinterziehung, ein neues Aktienrecht, um Vorstandsmitglieder zu zwingen, ihre Bezüge offenzulegen und die Zahl der Aufsichtsmandate pro Person auf fünf zu beschränken. Außerdem geht es um die Einführung eines Mindestlohns, der sich am Gesetz für Mindestarbeitsbedingungen von 1952 orientiert und der die von Union und FDP durchgesetzte Zumutbarkeitsregelung entschärfen soll, die Überprüfung von Hartz IV und die Soziale Grundsicherung. Vor allem letztere soll ein Schlüsselprojekt der Grünen im Bundestagswahlprogramm von 2006 werden.
Weiterhin beschlossen die Delegierten erste Eckpunkte für eine Bürgerversicherung, mit der das solidarische Krankenversicherungssystem unter dem Motto "eine für alle" weiterentwickelt werden soll. Außerdem forderten sie eine Neuausrichtung der finanziellen Unterstützung Ostdeutschlands.
Schließlich wählte der Parteitag die neuen Führungsgremien von Bündnis 90/Die Grünen. Nachdem die Ko-Vorsitzende Angelika Beer nicht mehr antrat, stellte sich die ehemalige Parteivorsitzende Claudia Roth zur erneuten Wahl für diesen Posten. In ihrer Bewerbungsrede versprach sie, integrativ nach innen und streitbar nach außen zu handeln. Bei ihrem temperamentvollen Auftritt in einem langen, knallroten Mantelkleid verkündete sie: "Man kann mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben." Was ihr angesichts von knapp 100 Gegenstimmen und 51 Enthaltungen und 77,88 Prozent bei ihrer eigenen Wahl nicht ganz gelang. Einige Delegierte waren offensichtlich nicht damit einverstanden, dass die neue Parteivorsitzende ihr Bundestagsmandat behielt. Reinhard Bütikofer, vor zwei Jahren als Verlegenheitskandidat für die Parteiführung betrachtet, hat seine Chance genutzt und wurde für seine bisherige Arbeit mit einem Wahlergebnis von 85 Prozent im Amt bestätigt.
Der Kieler Parteitag hat endgültig bewiesen, dass die Grünen von einer Bewegungs- zu einer funktionalen Partei geworden sind. Streitereien wie auf früheren Zusammenkünften gibt es nicht mehr, strickende Männer wurden nicht mehr gesichtet, auch Kinder und Hunde waren in der Ostseehalle sehr spärlich vertreten. Die grüne Partei webt indessen fleißig weiter an ihrer Regierungskollektion. Spätestens die beiden Wahlen in Schleswig-Holstein und NRW werden zeigen, ob sie haltbar und tragfähig ist. Falls nicht, dürften irgendwann die Karten neu gemischt werden.