Der König als literarische Figur
König zu sein ist schon deshalb leicht wünschbar, weil es hierzulande seit geraumer Zeit keine Könige mehr gibt. Ihre Pflichten sind weniger bekannt als ihre mächtigen Möglichkeiten, die wir in früher Kindheit mit den Märchen kennenlernen. Und so, als mythische Gestalten aus einer anderen Welt, thronen sie in uns ein Leben lang. Vielleicht ist die Figur des Königs deshalb so kraftvoll und so haltbar, weil sie gleichermaßen aus den Kinderzimmern der Geschichte und der eigenen Biographie entstammt.
Die wirklichen Könige und Königinnen aus europäischen Nachbarländern sind im Vergleich mit der Beeindruckungspotenz der Kindheitskönige geradezu lächerlich unwirkliche Gestalten. In langweiligen Anzügen die Herren, ausgerüstet mit bizarren Hüten und viel zu bunten Handtäschchen die Damen, erscheinen sie im Fernsehen. Unser Otto hat es erst in Griechenland zum König geschafft. Und unser Kaiser Franz sitzt im Hemd auf einer Almwiese und macht Werbung für Erdinger Weißbier. Was für ein Abstieg. In der Kinderwelt war der Kaiser die Prächtigkeitsentfaltung schlechthin. Er war der König der Könige. Über ihm: Nichts mehr. Seine Krone muss riesengroß gewesen sein.
Im Märchen tragen die Könige kostbare Purpurmäntel, Goldbesatz und funkelnde Edelsteine. Sie haben in der Regel drei Töchter, von denen die jüngste die schönste ist. Die größte Königssorge ist, die Töchter anständig zu verheiraten. Königskinder schaffen das nicht ohne ihren Vater. Ohne ihn ginge auch das Märchen vom Froschkönig schlecht aus. Erst die väterliche Ermahnung, die Tochter müsse die Versprechen erfüllen, die sie dem "alten Wasserpatscher" am Brunnen gemacht habe, nötigt sie dazu, den hässlichen Frosch zu küssen und verwandelt ihn damit - Überraschung! - in einen Königssohn. Wer behauptet, es sei die Macht der Liebe, die aus einem Wesen das Beste herausholt und noch den hässlichsten Frosch zum Prinzen adelt, der irrt. Liebloser als dieser angeekelte Pflichtkuss könnte keiner sein. Vielmehr ist es der Gerechtigkeitssinn des Königs, der den Durchbruch bringt. Streng, aber tugendhaft: So sind sie, so kennen wir sie, die Könige.
Aber nicht immer. König Drosselbart zum Beispiel ist ein unsympathischer Held. Er ist einer der zahlreichen Bewerber, die um die Gunst einer stolzen und übermütigen Prinzessin buhlen. Sie lacht über all diese Männchen. Ihn nennt sie Drosselbart, weil sein krummes Kinn sie an den Schnabel einer Drossel erinnert. So einen heiraten? Niemals. Der Vater-König, erzürnt über die Spottlust der Tochter, schwört, sie dem ersten besten Bettler zur Frau zu geben. Der Bettler ist der größte vorstellbare Gegensatz zum König: Die personifizierte Hartz IV-Angst des Mittelalters. In diesem Fall aber handelt es sich um den verkleideten Drosselbart. Er führt die ihm Angetraute in eine armselige Hütte und schickt sie in die Schule der Armut, um ihr den Stolz auszutreiben. Sie muss arbeiten. Körbe flechten. Spinnen. Mit Töpfen handeln. Blut, Schweiß und Tränen statt Nektar und Ambrosia: So ähnlich wird's ja dann heute auch bald wieder sein. Verkleidet als ritterlicher Herr reitet Drosselbart über den Marktplatz und zerdeppert seiner armen Frau das Tongeschirr. Was für ein unangenehmer Despot. Doch die Zähmung der Widerspenstigen gelingt: Aus der Prinzessin wird ein handzahmes Weibchen, König Drosselbart offenbart sich, Glück und Freude allenthalben, so enden die Märchen. Frauen haben da nichts zu lachen. Dass sich in jedem Bettler ein König und im König ein Bettler verbirgt, ist aber doch eine schöne Utopie.
Märchenkönige haben es besser als demokratische Machthaber. Auf den Straßen ihrer Königreiche schreit keiner "Wir sind das Volk!", denn ein Volk gibt es noch nicht. Es gibt bloß Untertanen, und die wissen, was sich gehört. Brav beugen sie das Knie, zahlen ohne zu murren ihren Zehnten, von Sozialhilfe ist gar nichts zu ahnen. Könige sind keine Reformpolitiker, sondern Regenten. Umfragewerte sind keine maßgebliche Größe für sie, die qua Geburt den Thron bestiegen und danach nur noch die Meuchelmörder der eigenen Verwandtschaft zu fürchten haben. Die Frage "Sein oder Nichtsein" stellt sich ihnen weniger politisch als existentiell. Was für Stoffe für die Literatur: Mit Shakespeares Königsdramen beginnt das bürgerliche Zeitalter, das seine eigenen Wünsche in denen der Könige spiegelt. Mord, Macht, Eifersucht, Ränke und Ranküne: Jede menschliche Regung wird im Königsdrama ins Schicksalhafte vergrößert. Leidenschaftlich wie die Könige wollen auch wir Nicht-Könige sein: im Guten und im Bösen. Was für eine traurige Zeit also, in der es Könige nur noch in den Illustrierten gibt.
Goethes König von Thule ist schon eine morbide, melancholische Figur. Mit ihr kündigt sich das Ende der Könige an. Den Tod vor Augen übereignet er das Reich mit letzter Kraft seinen Erben. Nur den goldenen Becher, sein Liebstes, sein Heiligstes, wirft er schwungvoll ins Meer. Niemand soll ihn nach ihm haben. Niemand soll ihm folgen. Die Ritter um ihn herum schauen mit Bestürzung zu. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt vom König zum Tyrannen, der beseitigt werden muss. Das ist Schillers Metier, auch wenn der Tyrannenmord in seiner auf Treue und Tugend basierenden "Bürgschaft" noch nicht gelingen will: "Zu Dionys dem Tyrannen schlich / Möros, den Dolch im Gewande; / ihn schlugen die Häscher in Bande. / ?Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!' / entgegnet ihm finster der Wüterich. / ?Die Stadt vom Tyrannen befreien!' / ?Das sollst du am Kreuze bereuen.'" Ergriffen von Möros' Treue zum Freund, verzichtet der König schließlich auf die Hinrichtung und sagt den vielzitierten Satz: "Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte." So wird aus ihm doch noch ein guter Herrscher.
Weil aber in jedem König der Tyrann lauert, droht in jedem Königreich der Umsturz und schließlich das Ende der Monarchie. In Achim von Arnims romantischen "Kronenwächtern" ist die Situation noch unentschieden. Da bekommt der Revolutionär zwar seinen Auftritt und droht: "Ja der König muss verderben, / Soll der Staat genesen sein. / Mit dem Dolche muss er sterben, / Meine Träne soll ihn weihn, / Mich entflammt nicht eigne Rache, / Mich ergreift des Landes Wut (...)." Doch gleich darauf ergreifen die Kinder im Chor das Wort und verteidigen den Landesherrn: "Wie viel Wolken ziehn vorüber, / Und die Sonne scheint dann hell, / Und der König wird einst lieber, / Als der mutigste Rebell, / Vor dem armen Volk erscheinen, / Das vergessen alte Not, / Sich erwählet einen Reinen / Und bestraft des Königs Tod; / Er ist gut, es sind die Grafen, / Die mit frechem Übermut, / Laster lohnen, Tugend strafen, / Ach der König ist so gut!"
Ein paar Jahre später schrieb Georg Büchner dann den "hessischen Landboten" und musste für diese Deklaration demokratischer Menschenrechte ins Straßburger Exil fliehen. "Keiner erbt vor dem andern mit der Geburt ein Recht oder einen Titel, keiner erwirbt mit dem Eigentum ein Recht vor dem andern. Die höchste Gewalt ist in dem Willen aller oder der Mehrzahl. Dieser Wille ist das Gesetz, er tut sich kund durch die Landstände oder die Vertreter des Volks, sie werden von allen gewählt, und jeder kann gewählt werden; (...) der König hat nur für die Ausübung der von ihnen erlassenen Gesetze zu sorgen."
Die deutschen Kleinkönige verstanden sehr wohl, dass unter diesen Bedingungen ein König kein König mehr wäre. Allenfalls ein Bundespräsident. Also der historische Schatten der Monarchie. Farblos, machtlos, ohne Purpur und Krone. Doch bis dahin musste in Deutschland erst noch ein Kaiserreich untergehen, Hitler das Tausendjährige Reich in Staub und Trümmer zerlegen lassen und im Osten schließlich die greisen Ritter der Tafelrunde aus dem Politbüro abtreten. Alles Königshafte haben wir nun endlich erfolgreich aus der Geschichte ausgetrieben. Und sehnen uns doch ein bisschen danach zurück. So müssen wir die alten Geschichten erzählen, um den Märchenton wiederzufinden, der verloren zu gehen droht.
Jörg Magenau arbeitet als Publizist in Berlin.