Leitbilder über Bord - die Neuordnung der Arbeit
Männer (und Frauen) befinden sich länger in der Ausbildung, in erwerbsfreien Zeiten, bekommen später Kinder und leben seltener mit Kindern zusammen, Bereiche wie (Weiter-)Bildung und Freizeit nehmen für beide Geschlechter zu. Männer verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern und in der Familie. Sie bewegen sich immer häufiger in "weiblichen" Lebensbereichen wie etwa auf dem Spielplatz, in Pflegeberufen. Trotz veränderter gesell-schaftlicher Verhältnisse und Geschlechterrollen beziehen sich noch viele Frauen wie auch Männer, politische Akteure, institutionelle Strukturen und betriebliche Regelungen mehrheitlich auf das Leitbild traditioneller Männlichkeitsentwürfe.
Mit der Soziologin Birgit Pfau-Effinger können dabei unterschiedliche Ebenen betrachtet werden. Die der dominierenden gesellschaftlichen Leitbilder zur Familie und zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die Ebene der Institutionen und das Wechselverhältnis von eigener Zielsetzung und kulturellen geschlechtlichen Leitbildern wie die Ebene der sozialen Akteure.
Auch Robert W. Connell spricht in seinem Konzept der "hegemonialen Männlichkeit" die Wechselbeziehungen dieser unterschiedlichen Ebenen an. Er sieht die Produktionsbeziehungen - neben der Verteilung politischer Macht und den emotionalen Bindungsmustern - als wesentlichen Faktor der Geschlechterordnung. Die jeweilige Konfiguration dieser Ordnung steht in einem Wechselverhältnis zu den jeweils vorherrschenden Geschlechterleitbildern, an denen die Subjekte sich orientieren, die also identitäts- und handlungsleitend sind. Da das soziale Strukturvermögen dieser Leitbilder herrschaftsbildend ist, spricht Connell von hegemonialer Männlichkeit als "jener Form von Männlichkeit, die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt". Hegemoniale Männlichkeit beinhaltet dabei nach Peter Döge unter anderen folgende Attribute: "weiße Hautfarbe, ökonomisch erfolgreich, heterosexuell, mittleren Alters und Macher."
Obwohl diese Standards jedoch den Lebenssituationen vieler Männer in Europa in Bezug auf Arbeit und Privatleben nicht entsprechen, werden Männer auf allen diesen Ebenen noch immer auf Beruf und Karriere festgeschrieben. Andere gelebte Männlichkeiten genießen kaum Anerkennung, werden als Ausnahmen thematisiert oder überhaupt nicht wahrgenommen. "Dies führt dazu, dass insbesondere Frauen, aber auch Männer, die dem Bild konkurrenzorientierter Männlichkeit nicht entsprechen können oder wollen, von Benachteiligungen und Diskriminierungen betroffen sind", wie der Soziologe Ralf Lange 1998 herausfand. So haben auch fast alle von uns interviewten Männer die Erfahrung gemacht, als Exoten und Ausnahmen wahrgenommen zu werden. Viele Männer betonten, dass ihre Erwerbsabweichung ihre Karriere behindert. Georg H. arbeitet seit über zehn Jahren in Teilzeit. Auf die Frage nach seinen Karrierechancen antwortet er: "Gute Frage. Die Chance ist gleich null. Das wusste ich aber auch in dem Augenblick, in dem ich mich dafür entschlossen hatte. In dem Augenblick, wo man sich als Mann für Teilzeit entscheidet, ist man tot, karrieremäßig. Man ist tot." Auch die gängige Arbeitsamt-Politik sieht Männer noch immer in der Rolle des Familienernährers. Frank S., ein erwerbsloser Vater, dessen Tochter die Hälfte der Woche bei ihm lebt, wurde von der Arbeitsberaterin aufgefordert, sich nun auch bundesweit zu bewerben. Auf seinen Einwand, er betreue seine Tochter mehrere Tage in der Woche und müsse deshalb in der Stadt bleiben, bekam er zur Antwort: "Andere Familienväter würden gerade für ihre Kinder den Wohnort wechseln, um arbeiten zu können und die Familie finanziell abzusichern."
Dieser Verlust an potentiellem Ansehen, Macht und Einkommen wird aber nicht durchweg negativ interpretiert: Zeitwohlstand und der "Anspruch auf das ganze Leben" werden bewusst gegen die berufliche Karriere eingetauscht. Männer, die mit dem Muster der Erwerbsfixierung brechen, ernten einerseits Unverständnis von anderen Männern, andererseits aber auch ein neues Verhältnis zu ihrem Umfeld. Lebenszufriedenheit und nicht Geld werden zu wichtigen Bezugspunkten. Dem Zwang zum Funktionieren und der Erwerbsarbeitszeit werden Grenzen gesetzt. Trotz wiederkehrender Zweifel und der wiederkehrenden "hegemonialen Männlichkeit im Ohr" zeigten die von uns befragten Männer ein hohes Maß an Lebenszufriedenheit. Die Reduzierung der Arbeitszeit führte bei allen Befragten zu einer erhöhten Zufriedenheit mit dem Gesamtarrangement von Arbeit und Leben.
Der gesellschaftliche Veränderungsprozess betrifft nicht nur Entscheidungen darüber, in welcher Form der/die Einzelne sein Leben zu organisieren versucht, sondern betrifft die Selbstkonzeption von Männlichkeit und Weiblichkeit. Kollektive Umdeutungsprozesse wie in der Schwulenbewegung, finden eher selten statt. Männer sind gemeinhin darauf angewiesen, sich individuell eine (andere) Männlichkeit anzueignen. Die Kosten erscheinen hoch, sind doch Ausgrenzung, fehlende Anerkennung und Krisen der Preis dafür.
Obwohl ökonomische und politische Deregulierungen als Motor dieses Wandels auftreten, sind weder die betriebliche Interessenpolitik, noch die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der Lage oder programmatisch darauf ausgerichtet, die veränderten Lebensmuster zu stützen und abzusichern. Trotz positiver Veränderungen, wie im Eherecht, stützt die Sozialpolitik weiterhin die "Ernährerehe", ähnlich wie das deutsche Sozialrecht das Normalarbeitsverhältnis stützt. Sowohl in der politischen Diskussion als auch in der Praxis der Arbeitsämter und deren Rechtsgrundlage wird auf der Erwerbsarbeitszentrierung der Männer beharrt und damit das Leitbild von der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung zementiert. So werden in der aktuellen Diskussion um Erwerbsarbeitslosigkeit noch immer die (ost)deutschen Frauen und ihre Erwerbsneigung benannt. Von einer weiterhin starken Erwerbsneigung von Männern ist nirgendwo etwas zu lesen oder zu hören. Diese wird einfach vorausgesetzt.
Unsichere Beschäftigungen werden als nur ein Übergang zur festen Stelle angesehen, Arbeitsamtsmaßnahmen als Wiedereingliederung in das Normalarbeitsverhältnis verstanden. Viele Regelungen gehen von einer raren Spezies aus: dem ehemaligen männlichen "Normal"arbeiter. Durch solche vergeschlechtlichten Zuschreibungen ist eine Arbeits- und Politikkultur gewachsen, die reale Veränderungen von gelebter Männlichkeit oder deren öffentliche Wahrnehmung verhindert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Männlichkeit sich als kulturelles Konzept aufgrund veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse in einem Spannungsfeld von Veränderung, Auflösung und Verharrung befindet. Darin bleiben Männer allerdings oft in alten, von der sozialen Realität weitgehend entkoppelten Leitbildern zurück. Männlichkeit zeichnet sich somit durch Differenzierung, Diskontinuität und häufig widersprüchliche Anforderungen aus. Brüche mit und Abweichungen von der herrschenden Männlichkeit vollziehen sich in Teilbereichen und nur langsam. "Neue Männlichkeit" ist für den einzelnen Mann nur lebbar, wenn er die Möglichkeit hat, sich neue Deutungsmuster anzueignen. Neue Leitbilder von Männlichkeit haben sich jedoch gesellschaftlich noch nicht durchgesetzt.
Wir fanden in unserer Forschung daher auch keine "neuen Männer", sondern Männer, die mit neuen Strategien den gesellschaftlichen Veränderungen und deren Auswirkungen auf das (noch immer) herrschende Leitbild von Männlichkeit begegnen. Auch die von uns befragten Männer wiesen in Teilen traditionelle Männlichkeitskonzepte auf.
Die gesellschaftlichen Institutionen hinken den sozioökonomischen Entwicklungen hinterher. Gefahr droht durch die Reformen des Arbeitsmarktes: Tina Klopp weist auf eine das Ernährermodell stützende Politik im Zusammenhang mit der Agenda 2010 hin. Lösungen aus dem Dilemma müssen die Strukturiertheit der unterschiedlichen Bereiche und damit die spezifische Eingebundenheit der Akteure in Betracht ziehen.
Das Leitbild des "Familienernährers" wird zunehmend obsolet. Gefordert ist ein Umdenken in Bezug auf männliche Entwürfe für Leben und Arbeit. Dazu müsste als erster Schritt das eigene Bild von (traditioneller) Männlichkeit hinterfragt und der Blick auf Männer in unterschiedlichen Lebenslagen und Männlichkeitsentwürfen gerichtet werden. Auch Männer wollen heutzutage familienfreundlichen Lösungen ihrer Arbeitsverhältnisse sowie Ansprechpartner und Interessenvertretungen in ihren Institutionen.
Vera Riesenfeld arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt "Work Changes Gender" (www.work-changes-gender.org).