Es gibt viel mehr als zwei Geschlechter
Weibliche Travestiten haben in Europa eine lange Tradition. Nicht nur während des Karnevals war es gängige Praxis, dass eine Frau Männerkleidung trug, sondern auch in Situationen, in der sie als Einzelperson beträchtlichen Gefahren ausgesetzt war: bei Krawallen, auf Reisen oder auf der Flucht. Neben den Frauen, die für kurze Zeit Männerkleidung trugen, gab es stets solche, die sich für längere Zeit als Mann ausgaben, oftmals so lange, bis sie enttarnt wurden. Meist handelte es sich dabei um Frauen aus den unteren Schichten. Sie waren in ein weniger enges Korsett weiblicher Verhaltensnormen gepresst als die Frauen gehobener Kreise, waren von Kindheit auf mit harter körperlicher Arbeit und dem alltäglichen Überlebens-kampf konfrontiert. Dabei erwarben sie notwendigerweise Eigenschaften und Verhaltensweisen, die ihnen die Hoffnung gaben, in einem Leben als Mann bestehen und daher männliche Privilegien für sich beanspruchen zu können. Die Gründe für den radikalen Bruch mit der geschlechtlichen Identität, mit dem am tiefsten verwurzelten Merkmal der eigenen Identität, reichen von materieller Not, über Vaterlandsliebe und Abenteuerlust bis zur Verweigerung einer erzwungenen Eheschließung. Um sich ihrem durch die Geschlechterhierarchie vorgegebenen Schicksal zu entziehen, arbeiteten sie in Männerberufen, die ihnen als Frau verwehrt und ungleich besser bezahlt waren. Sie verdingten sich als Handwerker, lebten als Mönche oder gar als Papst wie Johanna im 13. Jahrhundert, fuhren zur See oder zogen in den Krieg. Zur Zeit der großen Forschungsreisen und Eroberungsfeldzüge, in denen man einerseits viele Soldaten brauchte, andererseits die Bürokratie noch nicht entwickelt war und eine Melde- und Passpflicht nicht bestand, war es zunächst relativ einfach, eine neue Identität anzunehmen. Weitaus schwieriger war es, das Versteckspiel täglich neu zu bestehen.
Das Schicksal der Frauen, deren Verkleidung ent-deckt wurde, war ungewiss. Wenn eine Frau als Mann erfolgreich war, wurde ihre Verkleidung bisweilen gebilligt. Der Soldatin Thérèse Figueur, die in den napoleonischen Kriegen kämpfte, wurde der Verbleib in der Armee gestattet, auch nachdem man ihr wahres Geschlecht kannte. Angélique Brulon, mit 21 Jahren in die Armee eingetreten, verbrachte gar ihren Lebensabend als Soldat im Pariser Hotel des Invalides. Einige besonders tapfere weibliche Soldaten und Matrosen wurden bei Hofe empfangen und erhielten Pensionen. Sie besaßen zusätzlich Propagandawert: Mit ihnen konnte der Fürst der Welt zeigen, dass selbst Frauen seinem Banner folgten. Ludwig XIV. belohnte seine Soldatin Genéviève Prémoy mit dem Titel eines Ritters. Napoleon nahm die Flämin Maria Schellinck sogar in die Ehrenlegion auf. Die meisten Frauen allerdings wurden nach der Entdeckung ihres wahren Geschlechts aus dem Dienst entlassen, auch wenn man manchmal von einer Strafverfolgung absah.
Hatte eine Frau keine herausragenden Erfolge vorzuweisen und ließ sich gar noch einen anderen Norm-verstoß zu Schulden kommen, oder hatte sie einen unehrenhaften Beruf wie Straßenräuber oder Pirat gewählt, konnte sie mit dem Tode bestraft werden - unter Berufung auf die Bibel, die das Verkleiden explizit verbietet: "Eine Frau soll nicht Männersachen und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen: Denn wer das tut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel" (5. Buch Mose, 22,5). Einige Frauen wie die Heilige Pelagia verteidigten sich erfolgreich damit, Männerkleidung getragen zu haben, um ihren Jungfrauenstatus bewahren zu können. Im Falle von Jeanne d'Arc wurde dieses Argument von den Richtern nicht mehr anerkannt.
Für einen institutionalisierten Geschlechtsrollen-wechsel ist in Europa nur ein einziges Beispiel dokumentiert. Seit 1850 existierten auf dem Balkan, vor allem in Bergregionen, die sich durch Landwirtschaft, patrilineare Familienstrukturen, rigide Geschlechtertrennung und einen minderen Status der Frauen auszeichneten, so genannte "Sworn Virgins". Durch einen Schwur waren diese Frauen an ewige Jungfräulichkeit gebunden. In der Folge erhielten sie denselben Status wie ein Mann. Sie leisteten Männerarbeit, nahmen männliche Verhaltensweisen an, kleideten sich als Mann und trugen Waffen, was das ehrenvollste männliche Vorrecht war. Häufig übten Sworn Virgins ihre männliche Rolle so perfekt ein, dass Außenstehende sie nicht als Frauen wahrnahmen. Dieser Rollenwechsel war nicht immer frei gewählt. Neugeborene Mädchen konnten zum Sohn erklärt und als Junge aufgezogen werden, wenn es keinen männlichen Erben gab. Erwachsene Frauen konnten den Eid ablegen, um den Platz des verstorbenen Vaters oder Bruders als Familienoberhaupt einzunehmen. Andere leisten den Schwur nach einer weiblichen Sozialisation, um sich auf legale Weise einer arrangierten Ehe-schließung zu entziehen. Da ein Bruch des Schwurs mit Steinigung oder lebendigem Begraben bestraft wurde, gab es eine annähernd komplette heterosexuelle Abstinenz.
Das Aufheben der Geschlechterrollen wurde auch in modernen westlichen Ländern akzeptiert, allerdings nur in Krisensituationen, in denen das Fortbestehen der Gemeinschaft auf dem Spiel stand. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg mussten Frauen Männerrollen übernehmen, ob sie wollten oder nicht. Steine schleppende Trümmerfrauen konnten sich nicht mit Hinweis auf ihr Geschlecht der harten körperlichen Arbeit entziehen. Erst nachdem die Männer aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren und ihren Platz als Oberhaupt und Ernährer der Familie zurückforderten, wurden die Frauen in ihre traditionelle Rolle zurück-gedrängt.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts machen Frauen, die als Männer leben, in westlichen Kulturkreisen kaum noch von sich reden. Der letzte Fall, der für Furore sorgte, war der des Jazzmusikers Billy Tipton. Als Tipton, verheiratet und Vater dreier Adoptivsöhne, 1989 starb, stellte sich heraus, dass er eine Frau war. Selbst seine Ehefrau will die Wahrheit nicht gekannt haben, weil sie ihren Mann zwar geliebt, aber nie Sex mit ihm gehabt hatte. Begonnen hatte die lebenslange Maskerade in den 30er-Jahren, als Tipton in der Männerdomäne Jazz nur als Mann hätte erfolgreich sein können. Fälle wie dieser dürften künftig kaum mehr auftauchen. Zum einen sind Identitätswechsel durch die Bürokratie unmöglich geworden. Zum anderen ist es in Zeiten, in denen typische Männerdomänen wie die Bundeswehr für Frauen geöffnet werden, auch gar nicht mehr notwendig, sich als Mann auszugeben. Zwar sind Frauen in bestimmten Berufsfeldern und Führungspositionen noch stark unterrepräsentiert, doch prinzipiell steht die Tür meist offen. Ob sie den Weg dorthin in Rock oder Hose zurücklegen, ist einerlei. In Bezug auf die Wahl ihrer Kleidung haben Frauen maximale Freiheiten für sich herausgeschlagen. Gerade darum sind Frauen, die als Männer leben, in unserem Alltag optisch unsichtbar geworden. Sie treten nur noch in Erscheinung, wenn sie sich zu einem so radikalen Schritt wie einer Geschlechtsumwandlung entschließen. Die Zahl der Männer und Frauen, die diese Operation wünschen, ist ungefähr gleich groß.
Doch es gab immer auch Männer, die als Frauen lebten. In vorgeschichtlicher Zeit etwa, als die Dominanz des weiblichen Prinzips außer Frage stand und eine weibliche Gottheit, die Magna Mater, als Urmutter aller Gottheiten verehrt wurde, versuchten Männer im Rahmen religiöser Riten an der Fruchtbarkeit, dem Wissen und der Macht der Frauen teilzuhaben. Sie imitierten den Menstruationsvorgang durch rituelle Kastrationen (die Bedeutung des Spermas war noch unbekannt; als einzige Substanz, die Leben übertragen konnte, galt Blut, insbesondere Menstruationsblut), sie ahmten den Geburtsvorgang nach (Couvade) und trugen weibliche Kleidung. Noch im Römischen Reich geriet der Kybele-Kult vor allem durch die in Frauenkleidern auftretenden Weibmann-Priester zu einem orgiastischen Spektakel: Im Rahmen ekstatischer Zeremonien entmannten sich die Priester-Novizen - und mit ihnen viele Gefolgsleute - dabei selber, warfen ihre Genitalien auf den Umzügen in die Häuser, deren Besitzer sie daraufhin mit weiblicher Kleidung ausstatten mussten.
Religiöse Feste waren nicht selten rituelle Veran-staltungen, zu denen Männer in Frauenkleidern erschienen, wie der Dionysos- und der Herakles-Kult in Athen und Rom, die speziell auf die Oberschicht bezogen waren. Spätere Kaiser wie Heliogabal und Caligula zeigten sich auch ohne feierlichen Anlass in Frauenkleidern. Nero heiratete zweimal einen Mann; einmal, so sagt man, trug er selbst das Brautkleid. Auch Lustknaben kleideten sich häufig als Frau.
Mit dem Aufkommen monotheistischer Religionen wie dem Christentum, dem Judentum und dem Islam, die die Dominanz des männlichen und die absolute Minderwertigkeit des weiblichen Prinzips festschrieben, wurde die Rolle der Frau nachhaltig diskreditiert. Frauenkleider trugen Männer jetzt allenfalls noch als Tarnung auf der Flucht. Oder auf der Bühne: In der Oper wurden weibliche Gesangspartien bis ins 18. Jahrhundert von Knaben und Kastraten übernommen, und auch im Theater stellten fast ausschließlich Männer die Frauenrollen dar; Frauen war eine solche Betätigung kirchlich verboten. Einer der wenigen Männer, die lebenslang Geschichte als Frau schrieben, war Charles G. L. Thimothée d' Eon de Beaumont. Er reiste 1755 als Geheimagent Ludwigs XV. zum russischen Hof, wo er in elegantester Damentoilette als Nichte des französischen Diplomaten Douglas Aufse-hen erregte und wichtige politische Informationen zusammentrug. In Rekordzeit ritt er - wieder Mann - zurück nach Versailles, um die Neuigkeiten zu überbringen. Im Anschluss an diese Mission spionierte er in England. Da er abwechselnd als Mann oder Frau erschien, wussten zuletzt seine engsten Freunde nicht mehr, welches Geschlecht er eigentlich besaß. 1770 gab es in London offizielle Wettbüros darüber, ob er ein Mann oder eine Frau sei.
Die Rolle der Frau begannen Männer erst verstärkt im 20. Jahrhundert für sich zu entdecken. Einige taten es, um Weltmeisterinnen zu werden, wie die später in den USA lebende Polin Stella Walasiewicz (die sich dort Stella Walsh nannte). Sie stellte in den 30er-Jahren 23 Weltrekorde auf, die bis heute nicht annuliert wurden, obgleich man bei ihrem Tod 1969 feststellte, dass sie ein Mann war. 1966 holte Erika Schinegger aus Österreich den WM-Titel im Damenabfahrtslauf - ein Mann, der heute Erik Schinegger heißt. Sein Titel wurde ihm aberkannt. Als 1966 kurz vor den Leichtahtletik-Europameisterschaften bekannt gegeben wurde, dass Geschlechtskontrollen durchgeführt würden, traten vier Top-Favoritinnen nicht an.
Täuschungen dieser Art liegen der aus der schwu-len Subkultur erwachsenen männlichen Transvestitenkultur fern. Transvestiten schlüpfen lustvoll in die Rolle des anderen Geschlechts, ohne ihr eigenes zu verleugnen. Gesellschaftliche Anerkennung wird ihnen dennoch nicht zuteil. In einer patriarchalen Gesellschaft wird die Verkleidung des stärkeren Geschlechts als Frau in aller Regel noch immer negativ bewertet. Sie bedeutet einen sozialen Prestigeverlust, der in unzähligen Komödien fruchtbar gemacht, im konkreten Alltag jedoch selten toleriert wird. Travestiekünstler, die im Allgemeinen außerhalb der Bühne in ihrer männlichen Rolle leben, verzeiht man ihren Auftritt von Berufs wegen.
Das Schicksal von Transsexuellen - Menschen deren biologisches Geschlecht vom Identitätsgeschlecht abweicht - wird häufig eher als tragisch, denn als pervers eingestuft. Der Wunsch von Betroffenen nach Geschlechtsanpassung wird rund 50 Jahre, nachdem er chirurgisch erfüllt werden kann - die florierende Umwandlungsindustrie begann 1952, als die Ärzte aus dem GI George Jörgensen die Blondine Christine Jörgensen schufen - in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert. In Carterton, Neuseeland, wurde 1994 der ehemalige Mann Georgina Beyer zur Bürgermeisterin gewählt und vier Jahre später mit 90 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Seit 1999 hat Beyer als weltweit erste transsexuelle Frau einen Sitz in einem nationalen Parlament. So weit ist man in Deutschland noch nicht. Für Norbert Lindner, Familienvater und ehemaliger Bürgermeister für die PDS im sachsen-anhaltinischen Quellendorf, hatte kaum einer der Wahlberechtigten Verständnis. Nachdem er sich weiblich kleidete und 1998 öffentlich bekannte, als Frau zu empfinden, wurde ein Abwahlantrag gegen ihn vorgelegt. Die Wiederwahl unter dem Namen Michaela Lindner konnte er/sie nicht für sich entscheiden.
Noch kritischer werden Transvestiten, Cross-Dresser (heterosexuelle Männer, die sich im Unterschied zu Transvestiten unauffällig als Frau kleiden) und Transsexuelle gesehen, die eine Operation ablehnen, die sich nicht dem Medizinapparat ausliefern möchten, die ihren Körper behalten und lediglich die soziale Identität wechseln wollen. Eine solche Forderung geht in unserer auf stringente Zweigeschlechtlichkeit hin angelegten Gesellschaft auch Anfang des 21. Jahrhunderts vielen noch immer zu weit. Die hochgeschätzte Diseuse Georgette Dee darf sich freilich die künstlerische Freiheit dazu nehmen, aber schon Charlotte von Mahlsdorf, prominente Betreiberin eines Gründerzeitmuseums, war vor rechtsradikalen Übergriffen nach der Wende nicht mehr sicher.
Alte Kulturen und nordamerikanische Indianervöl-ker waren an diesem Punkt häufig aufgeschlossener. Sie machten das Geschlecht eines Menschen nicht biologisch fest, sondern am sozialen Rollenverhalten (Gender). Neben Frauen und Männern kannten Indianer Zwischengeschlechter, so genannte "Two-spirit-people", früher Berdachen genannt: Mannweiber - Frauen, die Männertracht trugen und mit auf die Jagd oder in den Krieg zogen - und Weibmänner, Männer, die sich als Frau fühlten, sich wie diese kleideten und traditionelle Frauenarbeiten verrichteten.
Der Geschlechtsrollenwechsel fand bereits vor Eintritt in die Pubertät statt und erfolgte insofern weitgehend unabhängig von der Festlegung sexueller Präferenzen. Two-spirit-people lebten in Partnerschaften mit biologisch, aber nicht sozial-kulturell (!) gleichgeschlechtlichen Menschen. Eine Partnerschaft zwischen einem Mann und einem Mannweib hätte als homosexuell gegolten und wäre sanktioniert worden. Two-spirit-people wurden in ihren Stämmen toleriert; oft brachte man ihnen sogar besondere Wertschätzung entgegen, weil man ihnen spirituelle Kräfte zuschrieb.
Die Indianer zählten vier Geschlechter, der Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld, der die Meinung vertrat, der Mensch sei nicht Mann oder Frau, sondern Mann und Frau, zählte vier große Zwischenstufen zwischen den Geschlechtern, die er detailliert ausdifferenzierte, die amerikanische Feministin Judith Butler zählt gar eine Vielzahl von Geschlechtern. Weniger ist mehr? Nein, wie Georgette Dee so schön singt: Mehr ist mehr. Die Tyrannei der Zweigeschlechtlichkeit muss endlich ein Ende finden. Mit Blick auf die Tausende und Abertausende, die sich in diesem engen Schema nicht verorten können, sollten wir ein Spektrum schaffen, das dem Gemenge aus Genen, Erziehung, Kultur und Psychologie gerecht wird, aus dem jede(r) einzelne von uns besteht. Ein Spektrum, in dem sich jede(r) frei positionieren kann. Es gilt keine Krankheiten zu heilen, sondern die Vielheit zuzulassen.
Milena Mushak arbeitet als freie Autorin in Bonn.