Sexualität als Spiegel der Rollenverteilung in der Gesellschaft
Die Zeiten, in denen selbst sexuelles Verhalten auf politische Theorie bezogen wurde, resümierte neulich Klaus Theweleit, seien längst passe. Ausgerechnet Theweleit, dessen Studie zu "Männerphantasien" einst vorbildhaft für den Bezug zwischen Sexualität und Politik war und dadurch den Diskurs der bundesdeutschen Kritischen Männerforschung zu einer Zeit prägte, als ein solcher noch gar nicht existierte. Ungefähr damals, Mitte der 1980er-Jahre, hatte auch die Frauenzeitschrift "Brigitte" eine empirische Bestandsaufnahme zum Mannsein in der bundesdeutschen Gesellschaft unter dem knappen, aber anspruchsvollen Titel "Der Mann" veröffentlicht. Zu dieser frühen Typologie von "Männlichkeiten" gehörte auch ein viel beachtetes Kapitel über den Verhütungsmittelgebrauch von Männern.
Der Gedanke, Geschlechterverhältnisse würden durch so Privates wie sexuelle Fantasien oder gar kontrazeptive Praxis konstituiert werden, mag heute tatsächlich verstaubt anmuten. Selbst wenn mal eine der seltenen Debatten um "Erotik im Geschlechterverhältnis" organisiert wird, wie im letzten Jahr durch die Heinrich-Böll-Stiftung, beschäftigen sich deren Beiträge auffallend wenig damit, wie denn diese Verhältnisse durch die Erotik geprägt werden. Dass Sexualität oder gar Empfängnisverhütung kaum mehr als relevanter Aspekt des Geschlechterverhältnisses gesehen werden, dürfte mehreren Entwicklungen geschuldet sein: Zum einen war während der "Brigitte"-Studie durchaus noch die Diskussion um die "symbolische Logik" der Pille oder auch die PorNo-Debatte virulent, die maßgebliche Aspekte einer feministischen Gesellschaftskritik jener Zeit darstellten. Die damals auszumachende "Pillenmüdigkeit" ist - so zeigen zeitgemäßere Studien zum Verhütungsverhalten - längst Geschichte. Orale Verhütung behält aber einen erheblichen Geschlechterbias: Die einst vieldiskutierte Pille für den Mann schafft es kaum mehr in Forschungsanträge oder Feuilletonbeiträge, und auch in die Nachtischschubladen von Männern wohl noch lange nicht. Dass sie in der von Robert Jütte vorgelegten "Geschichte der Verhütung" zur kontrazeptiven Zukunft avanciert, verwundert etwas. Dass der Medizinhistoriker schließlich doch einige Umsetzungsbarrieren aufgrund festgefahrener Geschlechterrollen befürchtet, schon weniger.
Zum anderen hat der Bedeutungsverlust des Sexuellen für die Geschlechterdebatte womöglich auch mit deren Verlagerung zu tun: In den vergangenen Jahren gelang mit der Einführung der Strategie des Gender Mainstreaming - mit ihrem Exkurs zum Gender-Budgeting - der entscheidende Schritt, die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern als politisches und ökonomisches Problem zu sehen und sie nicht weiter allein den Paaren und ihrer privaten Aushandlungsfähigkeit zuzumuten. Der generalistische Anspruch dieser Strategie, die Gleichstellung der Geschlechter auf allen Ebenen, auf allen Stufen und in allen Bereichen voranzutreiben, könnte aber auch dazu verleiten, nicht mehr zu sehen, was politische Strategie nicht sehen kann: Dass konkrete Geschlechterbeziehungen eben nicht nur in der Sphäre des Öffentlichen, sondern ebenso im Bereich der Intimität konstituiert werden.
Dass sich Gleichstellungspolitik nicht um diesen Aspekt kümmert, ist nur zu begrüßen. Dass sich auch Geschlechterforschung kaum mit diesem Aspekt beschäftigt, schon weniger. Gerade bei den Stammtheoretikern der Männerforschung finden sich zahlreiche Hinweise, wie wesentlich das Intimste für Geschlechterpolitik ist: Die Praxis der Sexualität und damit auch die der Verhütung (re-)produziert wie kaum eine andere Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Es ist evident, dass hier nicht minder als in Verwaltungshandeln und öffentlicher Rede ein "Doing Gender" stattfindet. Nicht von ungefähr insistierte Pierre Bourdieu bei seiner Beschreibung männlicher Herrschaft darauf, dass "Sexualität eine zu bedeutende Angelegenheit ist, um den Zufällen individueller Improvisa-tion überlassen zu werden". Gerade sie ist sozial bestimmt durch und gleichzeitig sozial bestimmend für das Geschlechterverhältnis.
In seinen ethnologischen Studien arbeitete Bourdieu heraus, wie die Positionen, die Männer und Frauen gesellschaftlich einnehmen, nicht nur auf Markt, Hof und Haus, sondern prägnanter noch im Bett und bei Fragen der biologischen Reproduktion entschieden werden. Weil hier so vieles scheinbar in der Natur der Sache liegt, setzt sich umso unangreifbarer die männliche "Sicht der Teilung der geschlechtlichen Arbeit und der geschlechtlichen Arbeitsteilung" durch.
Auf diesen Zusammenhang der Geschlechterposi-tionen in Bett, Büro und Bundestag macht auch der australische Männerforscher Robert W. Connell aufmerksam. Wenn er gesellschaftliche Machtverhältnisse untersucht, behält er immer alle drei Strukturen im Auge, innerhalb derer sie produziert und aufrechterhalten werden: Institutionelle Macht, Arbeitsteilung und die Struktur libidinöser Besetzung. Die Verhältnisse in den dreien denkt er strikt synchron: "Sexualität bezieht den Körper mit ein, ist aber selbst soziale Praxis und gestaltet die soziale Welt. Es gibt keine logische Kluft zwischen Sexualität und Lebenswelt in Organisationen."
Wie sehr gerade beim Thema Empfängnisverhütung geschlechtliche Arbeitsteilung und libidinöse Besetzung in eins fallen können, zeigt eine nun knapp zehn Jahre alte Untersuchung zur Passung der Beziehungsvorstellungen von Männern und Verhütung: Hier ließen sich deutliche Zusammenhänge zwischen Konzepten von Partnerschaft auf der einen und Praxis der Kontrazeption auf der anderen Seite nachweisen. So präferierten etwa Männer, die in ihrer Paarbeziehungen traditionelle Aufgabenteilung mit dem Mann als alleinigem Ernährer befürworten, Verhütung durch die Frau, insbesondere per Pille oder Spirale. Männer, die in ihrer Partnerschaft an Veränderung von Geschlechterrollen und stärkerer Geschlechtergerechtigkeit interessiert waren, zeigten dies auch in ihrer Beteilung an Empfängnisverhütung. Insbesondere die kommunikationsintensiven, natürlichen Verhütungsmethoden fanden dort Interesse. Die Ergebnisse illustrierten, dass es zwischen Sexualität und gesellschaftlicher Aufgabenteilung in der Tat breite Übergänge gibt.
Auch aktuellere Studienergebnisse der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung lassen vermuten, dass die Frage der Verhütungsbeteiligung zumindest privat Diskussionsthema zwischen den Geschlechtern bleibt: Es zeigen sich erhebliche Differenzen zwischen den Einschätzungen von Frauen und Männern, wer von beiden für diese Aufgabe zuständig ist. In den Ergebnissen wird außerdem deutlich, dass das grundsätzlich von Männern geäußerte Interesse an gemeinsamer Verhütungsverantwortung immer weniger Entsprechung in der empirischen Realität findet. Ein Omen auch für die Glaubwürdigkeit öffentlicher Gleichstellungsrhetorik?
Vor wenigen Monaten wurden die Ergebnisse der Studie "Männerleben" präsentiert. Vermutlich wird sich das öffentliche Interesse vor allem auf deren Resultate zur Familienplanung von Männern richten. Es ist unwahrscheinlich, dass die ebenfalls erhobenen Daten zum konkreten Verhütungsverhalten eine ähnliche Aufmerksamkeit erzielen werden. Schade, denn auf Geschlechtertheorie bezogen könnten sie uns einiges darüber sagen, welche gesellschaftlichen Männerbilder sich in den konkreten sexuellen Praktiken widerspiegeln. Und vielleicht plastischere Bilder von Geschlechterverhältnissen liefern als manches politisches Programm.
Dr. Jörg Fichtner ist Psychologe und arbeitet als Autor und Trainer in München.