Das Fehlen der Gelassenheit: Die jungen Alten und der Kampf gegen das alt werden
"Wenn ich nur schon alt wäre", so seufzte meine im Jahr 1956 17-jährige Schwester jedes Mal, wenn die Wirrnisse von Liebeskummer, schlecht vorbereitete Schularbeiten oder ein zur Unzeit ausbrechender Pickel vor dem Treffen mit dem wahrscheinlich "wichtigsten Mann meines Lebens" anstanden. Sie fantasierte sich das Alter - wie alt war man dann wohl? - als eine friedvolle Periode, überglänzt von Weisheit, umgeben von einer reizenden Familie.
Nun, die Realität sieht natürlich anders aus.
Ich frage mich, ob heutzutage eine 17-Jährige noch einen solchen Stoßseufzer von sich geben würde?
Das Alter als eine friedliche Periode, wo man seine wohlverdiente Pension genießt, ist als Bild wohl nur mehr selten in den Köpfen zu finden. "Friedvolles" Leben im Alter wird einem in diesen unruhigen Zeiten nicht unbedingt suggeriert. Eher gelten die Gedanken den nicht mehr zu bezahlenden Krankenkosten, den immens hohen Mieten und dem zusammenbrechenden Generationenvertrag.
Altsein in unserer Welt ist nicht schön, zumindest wird es, wie die meisten Altersforscher sagen, als etwas sehr Ambivalentes erlebt - von den Betroffenen sowie von den jungen Menschen.
In der Werbung treffen wir - oft recht attraktive - alte Menschen vor allem in Verbindung mit Haftcreme, Rheumamittel und Hörhilfen an. Diese Menschen scheinen zwar an solchen Artikeln viel Freude zu haben, aber man möchte selbst doch nicht unbedingt zu diesen Glücklichen gehören. Schmuck, Champagner und schicke Autos aber scheinen für junge und alte Alte nicht unbedingt produziert zu werden.
Um nicht dazugehören zu müssen zu den "Alten", hat man offenbar die "jungen Alten" erfunden. Sie sind 60 bis 70 Jahre alt (in manchen Veröffentlichungen mogelt man sogar die 75-Jährigen schon mit hinein), sehen ganz sicher nicht aus wie Großmutter oder Urgroßvater auf dem Bild zum 60. Geburtstag, reisen in der Welt umher und gehen in Fitness-Clubs. Viele achten auf ihre Figur, sehen - zumindest von hinten - aus wie ihre Enkelinnen oder Enkel. Männliche 60- bis 65-Jährige denken recht oft daran, wie es wohl wäre, nochmals eine Familie zu gründen. Wenn die Pension reicht, dann tun sie es auch gar nicht so selten - zur Empörung der abgelegten Ehefrau und der erwachsenen Kinder.
Als "Junger Alter/Junge Alte" ist man nicht alt, Punktum!
Übereinstimmend berichten uns Altersforscher, dass ältere Menschen - dies gilt für die ganze Spanne von jungen Alten bis zu den Greisen - sich selbst als mindestens zehn, 15 Jahre jünger einschätzen als ihre Altersgenossen: sie meinen, jünger auszusehen, jünger zu wirken und auch geistig frischer zu sein, als man "üblicherweise" in ihrem Alter ist. Die "Anderen" nämlich sind, wie man leider, leider bemerken muss, schon etwas tütelig und tatterig oder sie machen sich einfach ein wenig lächerlich mit ihrem jugendlichen Gehabe, wenn sie sich nochmals ein Motorrad kaufen oder nach Männern schielen.
Statistisch gesehen ist dies alles natürlich Unsinn.
Wahr ist: Die meisten älteren Menschen sehen heutzutage dank moderner Medizin, Kosmetik, gesunder Ernährung und - ja, warum nicht?- plastischer Chirurgie ganz anders aus als noch vor 100 oder sogar 50 Jahren - sofern sie nicht körperlich grobe Arbeiten verrichten müssen oder sehr viele Kinder geboren haben, ohne die dazu nötigen materiellen Mittel zu besitzen. Darauf berufen sich die Selbstbilder der "Jungen Alten", natürlich mit Recht - wenn sie nur nicht meinten, sie seien eine Ausnahme. Komplimente in dieser Richtung bekommen die meisten zuhauf. Denn auch die Komplimentemacher verbinden oft mit dem Alter noch die Bilder von früher.
Aber kein noch so frisches Aussehen und Lebensgefühl kann natürlich darüber wegtäuschen, dass man Boten des Alters spürt. Gedächtnis? - oh weh!.. Gerade hat man doch den reizenden französischen Film gesehen, von dem alle sprechen - aber: wie hieß er doch und: was eigentlich war der Inhalt? Natürlich, man erinnert sich sehr genau, wenn man nur einen kleinen Anknüpfungspunkt vom Gesprächspartner bekommt - aber peinlich ist es trotzdem. Mit dem Inhalt von Büchern geht es genau so. Die freundliche Umwelt der 30 bis 40-Jährigen beteuert, dass ihnen dies auch oft passiere. Mag sein - aber wie oft ist "oft" für die?
Und diese merkwürdigen Gelenkschmerzen beim Aufstehen. Früher konnte man natürlich frisch und ausgeruht aus dem Bett springen - dass dies jetzt nicht mehr gelingt, kennt jeder als ein Alterszeichen. Der alte Witz, dass man - sollte man sich beim Aufwachen wohlfühlen - schon tot sei, blieb haften und erscheint einem nicht mehr so witzig. Genau so wenig wie der angebliche Ausspruch des Alzheimer-Kranken, dass er jeden Tag neue Leute kennen lerne. Ziemlich oft erkennt man Leute nämlich nicht mehr wieder, obwohl man letzthin auf einer Party so nett mit ihnen geplaudert hat. Und ob man noch immer so witzig sein kann wie früher? Hat man diesen Schnack oder jene Anekdote nicht doch schon mehrere Male an den Mann gebracht?
All dies aber lässt sich verdrängen, wenn man bei günstiger Gelegenheit in den Spiegel sieht, vor allem dann, wenn man sich ohne Brille betrachtet. Denn die meisten älteren Menschen erschrecken bei ganz genauem Hinsehen und bei grellem Licht dann doch: so alt sehe ich aus? Irgendwie war dies doch noch vor kurzem anders?
Die Unsicherheit, für wie alt man sich denn eigentlich halten solle, nagt an vielen jungen Alten. Passt jenes grellfarbige Kostüm noch? Wie kurz darf der Rock sein, wo man doch wirklich hübsche Beine hat? Mit der Kleidung haben Männer weniger Probleme, aber auch die intellektuellsten unter ihnen wollen doch zeigen, dass sie ohne Bandscheibenschaden Kisten mit Mineralwasser schleppen können (vor allem für Fremde!) oder beim Skifahren die schwarzen Pisten nicht scheuen.
So schwankt das Selbstgefühl oft hin und her. Identitätsprobleme, die denen in der Pubertät manchmal gleichen, werden mit Scham und Unsicherheit erfahren. Natürlich sind stolze alte Väter mit Kinderwagen ein rührender Anblick - aber die boshafte Bemerkung älterer Frauen, dass das Enkelkind ganz reizend sei, ruft doch einen roten Kopf hervor. Unlängst traf ich einen dieser Väter (Mitte 60, schätzte ich!) mit Kleinkind im Buggy nach langer Zeit auf der Straße. Schon von weitem rief er mir zu: "Das ist nicht mein Enkelkind, das ist mein Sohn!", worauf die junge Frau an seiner Seite seufzend sagte: "Wie oft muss ich mir das noch anhören!". Schadenfroh dachte ich: "Und was wird der junge 20-Jährige von seinem 85-jährigen Vater denken, sofern er dann - statistisch gesehen eher unwahrscheinlich - noch lebt?"
Es scheint als hätten wir als junge Alte (und vielleicht ja auch später noch) unsere Rolle noch immer nicht gefunden. Hin- und hergerissen zwischen Jugendwahn und Realitätssinn finden wir uns schlecht zurecht. Natürlich können wir dankbar sein für die vielen Altersjahre, die uns noch in einigermaßen gesundem und geistig gutem Zustand treffen. Aber der Jugendwahn zeigt eben auch seine bedrohlichen Seiten: wenn man die jungen Alten allzu sehr lobt ihres Aussehens, ihrer Flexibilität und ihrer modernen Anschauungen wegen, dann ahnen sie doch auch, dass eben dies irgendwann einmal zu Ende sein wird.
Gerade die Komplimente zeigen natürlich an, dass dieses entschwindende Gut besonders wertvoll ist - viel wertvoller als alles, was man vielleicht im Alter gewinnen könnte. Nicht in jeder Kultur wird dies so krass gezeigt. Wenngleich man bekanntlich vormoderne Kulturen in dieser Beziehung nicht idealisieren sollte (Alte werden auch dort oft grausam behandelt!): es gibt doch in manch anderer Kultur Hinweise auf die Möglichkeit, das Alter als etwas Wertvolles zu betrachten. Dies ist dann der Fall, wenn die Fähigkeit und Kompetenzen alter Menschen im funktionellen Sinn wichtig sind, und vor allem dort, wo sie als die Bewahrer von Tradition und Verbindung zur Transzendenz angesehen werden.
Wenn unsere jungen Alten das auf sie zukommende Alter allzu sehr verdrängen, dann kostet das seinen Preis: Unsicherheit, Depression, ein schwankendes Selbstwertgefühl.
Wo man ein wenig "Altersweisheit" vermuten könnte, findet sich oft ein recht aufgeregtes Bemühen um Jugendlichkeit. "Gelassenheit", eine gewisse Distanz zu sich selbst, ist vielen jungen Alten nicht gegeben. Die unterschwellige Vorstellung, es sei das Beste, möglichst lange jung zu sein, beeinträchtigt diese, herkömmlichen Vorstellungen zufolge dem Alter zukommende Tugend.
Es bleibt natürlich ein zweischneidiges Schwert. Es ist selbstverständlich ein Geschenk der modernen Welt, von den Mühen und Gebrechen des Alters lange verschont zu bleiben. Es verkehrt sich aber zum Danaer-Geschenk, wenn sich damit ein Verdrängen jenes unabänderlichen Prozesses des Alterns verbindet. Irgendwann holt es jeden Menschen, der ein gewisses Alter erreicht, ein. Irgendwann kommen Abbau und Tod auf uns zu - und wir können es zwar aufhalten, aber nicht verhindern.
Eva Jaeggi ist emeritierte Professorin für Klinische Psychologie in Berlin, Verhaltenstherapeutin und Psychoanalytikerin. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, wie unter anderem bei rororo "Viel zu jung, um alt zu sein".