Schrumpfung als Chance / Von Ulrike Baureithel
Bemerkenswert ist die "Strafsteuer" für Kinderlose, weil sie erstmals finanziell spürbar ins Bewusstsein hebt, was bislang nur das mediale Panikorchester instrumentiert hat: Die "demografische Zeitbombe". Im Jahre 2050 wird die Hälfte der Deutschen über 50 Jahre alt sein (heute circa 40 Jahre). Damit, so die Prognosen, stehe Deutschland vor dem Problem, dass immer weniger Erwerbstätige immer mehr immer älter werdende Menschen finanzieren müssen, jedenfalls so lange die Sozialversicherungen - also die Gesundheits-, Pflege- und Rentenkassen - fast ausschließlich nach dem bisherigen Umlagesystem funktionieren. Auch der mittlerweile von Rentnern erhobene Beitrag für die Kranken- und Pflegeversicherung ändert daran wenig, sagen die Statistiker.
Alter macht Angst. Altsein wird mit Gebrechlichkeit und Abhängigkeit assoziiert, auch wenn es gleichzeitig als erstrebenswert gilt, dass die Menschen immer älter werden. Unsere jugendverliebte Republik tut sich schwer damit, das Phänomen Alter zu akzeptieren oder gar zu ehren wie in früheren Zeiten. Doch die Rede von "gierigen" Rentnern, die den Jungen alles "wegfressen" und ihnen keine Chance lassen, die Bilder von "Rentnerbergen" und "Überalterung" oder gar "Schrumpfung" - wo wir alle doch mit dem erklärten Ziel unbegrenzten Wachstums leben - zeichnet Schreckensvisionen. Die Alten werden gegen die Jungen ausgespielt, wobei es egal ist, ob zur "Jungenrevolution" aufgerufen wird wie beispielsweise von Daniel Dettling, oder die Alten ermutigt werden, sich gegen die "Diktatur der Jungen" zur Wehr zu setzen, wie von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher.
Auffällig ist, dass es sich dabei um eine in die Zukunft projizierte Phobie handelt. Denn die geburtenstarken Jahrgänge sind heute ja noch im Erwerbstätigenalter, aktive Beitragszahler also - wenn sie einen Job haben. Aber genau das ist der springende Punkt: Die heutigen Probleme der Sozialsysteme haben (noch) nichts mit "Altenlasten" zu tun, sondern sind die Folgeerscheinungen einer nicht und wahrscheinlich nie mehr vollbeschäftigten Gesellschaft. Wenn heute über Bürgerversicherung, Kopfpauschale oder Riester-Rente gestritten wird, dann als Folgewirkung der Arbeitsmarktsituation. Dennoch gewinnt man gelegentlich den Eindruck, dass das Horrorszenario von einer "vergreisenden Gesellschaft" in der öffentlichen Debatte als Sprungvorlage für unangenehme Maßnahmen dient: Die Kürzung von Sozialleistungen und der Rückbau von Infrastruktur, all dies kann mit den demografischen Prognosen verbunden werden. Implizit unterstellt wird, dass die Leute (genauer: die Frauen) selbst für die Situation verantwortlich sind, weil sie zu wenig Kinder produzieren. Vergessen wird dabei, dass nicht einmal die heute lebenden Jugendlichen genügend Ausbildungschancen haben.
Blickt man in die Geschichte, erkennt man, dass Fertilität und die Reproduktionskraft einer Gesellschaft immer schon eine politische Angelegenheit waren. 1913 trieb die so genannte "Gebärstreikdebatte" die Sozialdemokratie um, um 1930 (also vor den bevölkerungspolitischen Programmen der Nationalsozialisten) fahndeten Wissenschaftler nach den Gründen für das zurückhaltende Reproduktionsverhalten der Deutschen, und heute blickt die amerikanische Politik alarmiert auf die sinkende Geburtenrate in Europa, weil befürchtet wird, dass künftig weniger Geld in den militärischen Apparat fließen könnte. Andererseits offenbart die Geschichte auch, dass sinkende Kinderzahlen Gesellschaften wohlhabender machen, während Gesellschaften mit einem hohen Jugendanteil in der Regel ärmer sind. Und noch etwas lässt sich aus der Geschichte lernen: die Unwägbarkeit und Unzuverlässigkeit von Prognosen.
Der mit Statistik vertraute Sozialwissenschaftler Gerd Bosbach beispielsweise warnt davor, die 50-Jahresberechnungen des Statistischen Bundesamtes allzu zu ernst zu nehmen, weil niemand sagen kann, welche unvorhergesehenen Umstände die Situation verändern könnten. In der Vergangenheit seien weder die Weltkriege (was wir uns nicht wünschen wollen), noch die Pille, noch die Arbeitsmigration prognostiziert worden. Weshalb also sollten künftige Zuwanderungsschwankungen, die Fertilitätsrate, Epidemien oder politische Großereignisse vorauszusehen sein?
Vielleicht entschließen sich zukünftig viele Frauen nach der Menopause doch noch für ein Kind, weil die Reproduktionsmedizin entsprechende Leistungen anbietet, die Frauen länger leben und sich vital genug fühlen, auch noch spät ein Kind aufzuziehen? Vielleicht werden die großen Wanderungsbewegungen dazu führen, die Adoptionsregelungen zu erleichtern, sodass sich hier zu Lande wohlhabendere Menschen Kindern annehmen, die sonst geringe Chancen hätten? Wer will schon vorhersagen, wie sich die Lebenserwartung insgesamt tatsächlich entwickelt, angesichts absehbar rationierter medizinischer Leistungen? Und wer wird ernsthaft glauben, dass das Renteneintrittsalter in 20 Jahren noch bei 65 Jahren liegen wird?
Ganz zu ignorieren sind diese natürlich nicht: Ganz sicher werden wir uns auf eine älter werdende Gesellschaft einzurichten haben und auf schmerzliche Verteilungskämpfe, die zwischen Alt und Jung ausgetragen werden. Aber eben nicht nur: auch zwischen wohlhabenden und ärmeren Bevölkerungsschichten, zwischen Menschen mit Kindern und Kinderlosen, Deutschen und Nichtdeutschen, Arbeitsplatzbesitzern und Lohnarbeitslosen, und nicht zuletzt zwischen Männern und Frauen wird es zu Verteilungskonflikten kommen. Die Beschwörung von "demografischen Zeitbomben" ist auf jeden Fall kontraproduktiv und löst kein einziges Problem.
Ulrike Baureithel ist Redakteurin beim "Freitag".