Die Popkultur war immer jung: Und nun?
Jugendlichkeit nämlich ist ihre wahre Ideologie. Eine Adoleszenzverschiebung, die seit Jahren Hybris und Weltschmerzpathos kultiviert. Der Berufsjugendliche ist ihr höchstes Ziel. Authentisch erscheint nur derjenige, der jugendliche Unsicherheit und permanenten Zweifel lebt. Ein Bild vom Altern hat der Rock'n Roll bis dato nicht. Verschwende deine Jugend, denn all die Guten sterben früh!
Nicht jedem indes gelingt, was Jim Morrison als "Durchbruch auf die andere Seite" besungen hat. John Lennon, Brian Jones oder Curt Cobain waren die hochmythologisierten Ausnahmeerscheinungen einer Kultur des "Viva la Muerte". Für den Rest wird Reifeprüfung zur Endlosaufgabe. Ein Gestus, der romantisierte Todessehnsucht und radikale Posen liebt. Je erbarmungsloser diese halbwüchsige Zugehörigkeitslosigkeit gelebt wird, um so überzeugender die Botschaft: Man meint es noch immer ernst mit der Welt. Für die Baby Boomer, die als erste Generation von dieser Denkungsart geprägt worden sind, mag die biologische Uhr längst ticken, der Eintritt ins "wahre" Leben aber wird weiterhin aufgeschoben.
Der philosophische Zeitgeist ist dieser popkulturellen Attitüde dabei schon früh zur Hilfe geeilt. Die Postmoderne, die, wie Jean-Francois Lyotard es formulierte, alles Überkommene zu hinterfragen hatte und statt auf Permanenz und Tradition lieber auf Differenz und Augenblick setzte, bereitete dem aufkommenden Jugendwahn den geistigen Nährboden. "Postmodernismus bedeutet nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt. Dessen permanente Geburt." Und vor lauter Zeugen und Gebären fiel Altern und Reifen irgendwann hinten runter.
Schon die Sprache der Postmodernen war jugendlich bis infantil. Ständig wurde dort "gespielt". Geschichte, Identität, Erinnerung - alles war im steten Fluss. Alles konnte unentwegt umfiguriert werden. Eine bessere Ideologie konnte dem Berufsjugendlichen nicht an die Hand gegeben werden. Denn wo auch der letzte Kanon verzockt worden war, blieb dem Homo Ludens nichts, als geschichtsentbunden und wie ein unreifer Teenie seine eigenen Erfahrungen zu sammeln.
Mit marketingerfahrener Raffinesse gab er dieser Lebensform treffsicher einen neuen Namen: die "Erlebnisgesellschaft". Dies meinte nichts anderes als den Wandel vom "weltbezogenen Subjekt zur subjektbezogenen Welt". Das Copyright an dieser Definition hält der Soziologe Gerhard Schulze. Und der hat damit erreicht, was mit keinem Jungbrunnen zuvor gelungen war. Die jugendliche Hybris, die sich selbst unentwegt im Zentrum des Universums weiß, ist endgültig zur bestimmenden Weltsicht geworden.
Doch nun zeigen sich auch in der "subjektbezogenen Welt" die ersten Zipperlein, und die, die eben noch jung waren, schauen sich selbst verdattert an. Die frühen Popveteranen erreichen den wohlverdiente nAltenteil. Mit Bob Dylan und Mick Jagger sind sie in die Jahre gekommen. Die, die geboren wurden, um wild zu sein, erkennen mit den aufkommenden Wehwechen, der ersten Altersdemenz und den aufscheinenden Gebrechlichkeiten plötzlich die Schwere der Welt. Da wäre es an der Zeit, einmal fundamental umzudenken.
Denn so wie die Vorreiter der Popkultur Jugendwahn und Dauer-Infantilität geprägt haben, so werden sie auch die Speerspitze jenes Phänomens bilden, das sich unter dem Begriff "alternde Gesellschaft" allmählich am Horizont abzeichnet. Die Avantgarde des Rock'n Roll wird zum Wegweiser der Rentnerschwemme.
Nun ist Deutschland für seine Untergangsfantasien bekannt und seine "Spenglereien" sind berüchtigt. Zieht man indes das Leidenspathos ab, so bleibt noch immer eine Gesellschaft im Umbruch. Diese muss nicht nur nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten für die sich verändernden sozialen Systeme suchen. Ihr ermangelt es vielmehr an Rollen- und Leitbildern für die neuen Alten.
Der Berufsjugendliche zumindest tut sich noch immer schwer damit, den Prozess des eigenen Reifens anzunehmen. Das, was Zeitschriften und Magazine an neuen Rollenbildern für die kommenden Pensionäre anzubieten haben, liest sich letztlich wie eine Fortschreibung der Jugend mit anderen Mitteln. Vom Focus bis zum Stern wimmelt es vor sogenannten Best Agern. In PS-starken Silberpfeilen düsen diese durch die Lande oder brausen als Silver Surfer über den Datenhighway.
Stolz wird darüber berichtet, dass der Zwei-Personen-Rentnerhaushalt mit durchschnittlich 1.700 Euro gut 200 Euro über denen einer Familie mit Kindern liegt und dass die Über-50-Jährigen über eine Kaufkraft von 90 Milliarden Euro jährlich verfügen. Fast scheint es, als läge die wahre Jugend im reifen Alter. Ökonomisch omnipotent gönnt man sich endlich die Autos mit allen "Extras" (Silver Shopper), und wenn die Leiblichkeit mal schwach macht, dopen Hormonpräparate den greisen Körper zu neuer Lebenslust. Diese neuen Alten haben einfach alles - alles, außer Alter.
Das nämlich ist trotz allem Gerede über die alternde Gesellschaft noch immer nicht präsent. Längst mag es Age Explorers und Senior Scouts geben. An Omas Guter Stube aber wird mit solchen Bildern noch immer vorbeigeforscht. Alles, was nicht alt, lebensfroh und konsumstark ist, wird unter die Metaphorik einer Naturkatastrophe subsumiert. Da naht allerorten die "Rentnerschwemme", und das soziale Gefüge zerbricht an einer "Altenlast". Vor Überalterung wird "gewarnt", während dennoch die "Zahl der Alten dramatisch ansteigt".
Der Berufsjugendliche mag sich drehen und wenden, wie er will. Mit Anti-Aging-Creme scheint es nicht mehr getan. Denn kaum, dass die Haut sich wieder straffer anfühlt, kommt der Schrecken des Welkens mit noch dramatischeren Bildern durch die Hintertür wieder herein.
Lösung kann letztlich nur eines schaffen: Das Bild des Alterns erneut in die Gesellschaft zu integrieren. Erst wenn die Adoleszenzverschiebung der Popkultur als eine Schimäre entlarvt wird, kann auch eine befriedigende Altersidentität geschaffen werden. Noch mögen uns die Hochglanzbilder in den Medien die "jungen Alten" vorgaukeln. Die "alten Alten" aber fühlen sich anders an.
Zwar mögen auch die noch finanziell besser gestellt sein als der Haushalt einer jungen Familie. Wirklich bereichern aber werden sie mit anderen Dingen: Mit Kompetenz, Reife und Erinnerung etwa. Denn all dies sind Werte, die Pop und Postmoderne bis dato außen vor gelassen haben. In einer Wissensgesellschaft aber werden sie zunehmend unermesslich sein. Ihre Wiederentdeckung kann somit nicht nur für das eigene Reifen eine Bereicherung sein. Auch für die Gesellschaft und ihr soziales Gedächtnis ist auf Dauer nichts unproduktiver, als sich die gelebten Jahre einfach "stehlen" zu lassen. Wer also schon seine Jugend verschwendet hat, der sollte wenigstens im Alter etwas auf sich Acht geben.
Ralf Hanselle ist freier Journalist, schreibt für die "Financial Times Deutschland" und lebt in Berlin.