Als No-Ager hört man niemals auf cool zu sein, schon gar nicht in Haarnadelkurven
Passo Pordoi, Norditalien. Es sind 30 Grad, Hochsommer, strahlender Sonnenschein. Den einschlägig Unbedarften mag es überraschen, hier, am Fuße einer Großgondelstation völlig unvermittelt auf Hunderte lederbewandete Menschen zu treffen, die dick verpackt in einem Eiscafé oder einfach auf der Leitplanke sitzen. Die Strecke rund um das Sella-Massiv in Südtirol ist eine der meist befahrenen Motorradrouten Europas. Wegen der landschaftlich schönen Gegend im Herzen der Dolomiten; wegen ihrer Serpentinen und Haarnadelkurven, aber auch, als Treffpunkt von Gleichgesinnten. Hier, in der Abgeschiedenheit der italienischen Alpen, findet vom Frühsommer bis zum Spätherbst an jedem sonnigen Tag eine Art Schaulaufen von Motorradfahrern statt. Trotz der weiten Anreise sind die Maschinen poliert, die Ausrüstung ist sauber, das Leder schimmert, der Helm glänzt. Und sogar ein paar Kleine sind in Leder gewandet.
Die Kleinen sind dabei nicht etwa 18 und gerade im Besitz ihres ersten Führerscheins. Sondern in aller Regel im Vor- oder Grundschulalter und mit Mami und/oder Papi im Urlaub. Ihre Eltern, und auch alle anderen Biker, die sich hier tummeln, sind mindestens 35, häufiger jenseits der 40.
Den klassischen Motorradfahrer, wie man ihn früher nicht nur vor seinem inneren Auge vorbeiziehen sah, mit langen Haaren und Jeansjacke, mit wenig Geld und dafür mit Gitarre, ist ein Mythos vergangener Tage. Das sagt nicht nur, wer am Passo Pordoi oder beim europaweiten Harley-Davidson-Treffen in Barcelona vorbeikommt. Das sagt auch die Industrie: Der durchschnittliche deutsche Motorradfahrer, gab der Dachverband der Motorradbauer jüngst bekannt, ist 40 geworden. Die klassische Kundschaft, klagte man, nämlich die Jugendlichen, fänden Motorradfahren hingegen inzwischen unattraktiv und nicht "in".
Ein typischer Fall: Allerorten übernimmt eine Generation, die schon seit zwei Jahrzehnten erwachsen ist, einstige Bastionen der Jugend. Besonders deutlich wird das überall dort, wo Menschen im Urlaub sind und sich ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen bewegen können. Ob auf dem sächsischen Zeltplatz, im thailändischen Bambushüttencamp oder am kretischen Strand: Die dort campieren und sich in Hängematten fläzen, sind immer öfter in einem Alter, in dem man es sich früher längst in Hotelbetten gemütlich machte. Letztere überlassen sie heute der Jugend - und die nimmt, so scheint es, gerne an. Statt mit einem Interrail-Ticket oder schlicht unter Zuhilfenahme des rechten Daumens reisen die meisten jungen Leute heute mit dem Flieger in bezahlbare Sonnenparadiese - um sich dort dann möglichst wenig, und wenn dann möglichst bequem, zu bewegen.
Warum 20-Jährige das Pauschale schätzen, ist schwer zu sagen. Vielleicht finden sie das Leben schon ohne Isomatte hart genug. Oder sie wollen, wie Generationen vor ihnen, unter sich sein. Und nicht Gefahr laufen, an irgendeinem Lagerfeuer auf ihre Eltern oder deren Freunde zu treffen.
Das natürliche Bedürfnis nach Abgrenzung war einfacher zu befriedigen, als Mami und Papi noch mit dem Volkswagen an die Nordsee oder an die Costa Brava schuckelten und sich dort von Shanty- und Schlagersängern animieren ließen. Heute verhält sich der Fourty-Something in erstaunlich großer Zahl immer noch wie ein Twenty-Something - mit dem feinen Unterschied, dass er sich bei seinen Outdoor-Trips inzwischen auch den Tauchkurs, den Sherpa oder den Nachtzug für sich und sein Motorrad leisten kann. Im Grundsatz findet er es enorm erholsam, sein abendliches Essen selber über dem Feuer zu drehen und Gitarrenklängen zu lauschen. Erstaunlicherweise hat dieser jung gebliebene Mittvierziger dabei auch gar nicht jenes Hippiehafte seiner Vorläufer in den 70er-Jahren. Wenn man ihn fragt, warum er so lebt, wie er lebt, guckt er ganz überrascht und fragt: Warum denn nicht?
Ja, warum eigentlich nicht? Die Generation der Babyboomer ist mit ihrem enormen Beharrungsvermögen schließlich überaus erfolgreich: Nicht nur in der Prärie hat sie ihr Revier erfolgreich verteidigt. Sondern auch in den Metropolen und Großstädten, genauer gesagt, in der Popkultur, die aus den Metropolen der Welt gespeist wird. Im popkulturellen Diskurs macht seit einiger Zeit der Begriff der "No-Agers" die Runde. Damit gemeint sind all die, die aus den 80ern den Hang zum Hedonismus herübergerettet haben und deren Freizeit immer noch zu einem nicht unwesentlichen Teil von Comics und Clubs, Kinos und Konzerten bestimmt wird. Die zu alt sind für Tamagotchi und Hello Kitty, nicht aber für Mangas und die Simpsons. Die Britney Spears und Cristina Aguilera verachten, Seeed und Kruder und Dorfmeister aber verehren. Ohne sie, das gibt die Musikindustrie unumwunden zu, stünde die Pop-Produktionsmaschine noch näher am Abgrund als sie es ohnehin schon tut. 21 Prozent der Hörer von Popmusik sind heute 40 und älter; nur 14 Prozent sind Teenager.
Damit prägt das Kaufverhalten längst das Angebot. Nicht mehr die Jugend, sondern Menschen über 40 entscheiden, was auf CD gepresst, im Radio gespielt und in Konzerthallen dargeboten wird. Und auch wenn der "No-Ager" lebensstilistisch wie musikalisch aufgeschlossen ist, hängt er doch an seiner Jugend. Und in der gab es nun mal kein Ambient, Jungle und Detroit-Techno. Sondern Neil Young und Status Quo, The Cure und Morrissey, die Pet Shop Boys, Madonna und Depeche Mode.
Sie alle gibt es noch heute - und sie alle füllen immer noch die Hallen und die Kassen. Nie war soviel Revival in der Musik wie heute. Die immer noch gewollten Künstler unterscheiden sich dabei von ihren Konsumenten eigentlich nur in ihrem Bekanntheitsgrad. "Ich habe immer gesagt, wenn ich 40 bin, mache ich etwas ganz anderes", erzählte The Cure-Frontmann Robert Smith neulich seinem Interviewpartner. Leider aber habe das Aufhören "nur im Hirn" funktioniert: "Ich habe nicht einkalkuliert, dass ich gar nicht aufhören will." Das Nicht-Aufhören-Wollen ist dabei zur Abwechslung einmal gar kein nur männliches Phänomen. Auch Debbie Harry und Tina Turner, Patti Smith und Cher sind noch dabei.
Alles könnte so schön sein - wenn da nicht die richtigen Jugendlichen wären. Die gibt es schließlich, wenn auch in kleiner werdender Zahl, auch noch. Und all jene, die in einem Alter sind, in dem man normalerweise hofft, eines Tages ein Popstar zu sein, klagen darüber, wie schwer es ist, in der Branche Fuß zu fassen. Und manche Jugendliche stehen zwar immer noch auf alternde Punkbands wie Die Ärzte; vielleicht auch nur, weil die zwar alt sind, man aber dort immer noch mit einer vergleichsweise geringen Wahrscheinlichkeit beim Open-Air-Konzert auf die eigenen Eltern trifft. Anders als bei Neil Young, Iggy Pop und Joe Cocker - in deren Angesicht sie sich häufig nichts sehnlicher wünschen als mehr junge Bands. Ändern können sie daran aber kaum etwas. Anders als ihren Eltern fehlt ihnen das Geld, um im CD-Laden die eine oder andere Band nach oben zu pushen.
An der Misere etwas ändern könnten nur die etwas, die all die CD´s kaufen. Dieselben Ex-Jugendlichen, die im Urlaub Tempel und Tauchbasen bevölkern, sitzen zu allem Überfluss auch noch an den Schalthebeln der Macht. Sie sind es, die Platten produzieren, promoten und auflegen. Sie entwerfen die Motorräder. Darüber, was eigentlich mit der Jugendkultur passiert, wenn die Jugendlichen 40 sind, denken sie hin und wieder auch laut nach. Vielleicht im Urlaub; bei einem lauschigen Abend am Feuer und zu vertrauten Gitarrenklängen vergangener Zeiten.