Hingabe in Würde: Die Sehnsucht nach dem Alter, wie es früher war / Von Pascale Hugues
Lea hat sich damit abgefunden. "Ich habe zwar jede Menge schöner Ringe", sagt sie, "aber die werde ich nicht mehr tragen. Zu diesen Händen passt kein Schmuck mehr." Lea sagt das ohne Verbitterung, ohne Bedauern, ohne Traurigkeit. Es ist eine ruhige Feststellung. Sie legt ihre schönen, starken Hände flach auf den Tisch. Tintenblaue Venen pulsieren unter der durchscheinenden Haut. Dutzende von kleinen Flecken zeichnen den Handrücken wie die Oberfläche einer Eierschale. Man kann darin jene Jahre der Büroarbeit lesen, als Lea die Abteilung Finanz- und Rechnungswesen eines großen Berliner Unternehmens leitete. "Das sind Schreibtischtäterhände", lacht Lea. "Die rechte Hand hat mehr Venen als die linke. Das war die, die den Bleistift hielt." Man kann in Leas Händen den Krieg lesen, die Bombenattacken, die Geburt des Sohnes, den Tod des Mannes. Man kann die Turbulenzen und Freuden eines sehr langen Lebens darin erkennen. Im nächsten März wird Lea 80 Jahre alt.
"Es gibt einen Moment, in dem Du im Alter ankommst. Nur geht das sehr weich vonstatten, man merkt es nicht sofort. Und eines Tages ist es dann plötzlich da, das Alter, und lässt Dich nie mehr allein." Für Lea wurden die Hände zum Indikator. Für andere ist es das Telefonbuch, das sich plötzlich nicht mehr ohne Brille entziffern lässt. Für wieder andere die Treppenstufen, die man mit immer größerer Mühe erklimmt. Oder der Schlaf, der sich zunehmend rar macht. Knochen, die beim kleinsten Sturz brechen. Der Rücken, der immer krummer wird. Namen, die man sich nicht mehr merken kann, Daten, die man durcheinander wirft. Oder der Tod der eigenen Eltern, der einem klar macht, dass man der nächste ist auf der Liste des Abschiednehmens. Das Altern: Es besteht aus diesen kleinen, unvermeidlichen Bankrotterklärungen des Körpers und der Erinnerung.
Heute Nachmittag hat sich Lea einen Kindheitstraum erfüllt: Sie ist auf die Bühne gestiegen, um Theater zu spielen. Lea gehört zu den "Spätzündern", einer Wandertheatergruppe für alte Damen, die keine Lust haben, aufzugeben. Apathie, Isolation, Frustration, übermäßiger Fernsehkonsum - das sind die angsteinflößenden Begleiterscheinungen des Alterns, vor denen die "Spätzünder" flüchten. Sie wollen aktiv und körperlich fit bleiben, wollen ihren Lebensabend fest integriert in eine kleine Gemeinschaft verbringen. Das neueste Stück der "Spätzünder" ist die Bühnenversion einer apokalyptischen Parodie, die davon handelt, was das Altern in Zeiten des Jugendwahns bedeutet: "Man kann durchaus 20 Jahre lang 40 sein", versichert dort eine Fitness-Trainerin einer Gruppe von alten, atemlosen Damen. "Mit meinen 65 Jahren darf ich doch wohl alt werden!", antwortet ihr eine Rebellin, die das Recht einfordert, zerbrechlich, krumm und zittrig zu sein. All jene Alten, die unfähig sind, den Fitness-Test zu bestehen, werden in der Inszenierung der "Spätzünder" bis zu ihrem Tod in einem Container verstaut: eine Hölle à la Orwell. Was dort auf der Bühne geschieht, versinnbildlicht den Druck, dessen Opfer die Alten im wirklichen Leben sind. Selbst mit 80 soll man heutzutage dynamisch, sportlich und faltenfrei sein. Die Alten werden dazu angehalten, sich als Junge zu verkleiden. Das Altern ist keine normale Konsequenz des Lebens mehr, sondern ein Makel, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.
Aber ist das Altern heute nicht auch gleichzeitig leichter geworden? "Unsere armen Mütter, was die für Klamotten tragen mussten!", erinnert sich Lea. "Ab einem bestimmten Alter kleidete man sich nur noch in Schwarz und Grau. Wir dagegen rennen heute oft in Jeans durch die Gegend. Damals war Schwarz die Farbe des Todes. Heute tragen alte Damen Schwarz, weil es eine Modefarbe ist." Der Takt der Zeit hat sich gewandelt. Für Balzac war eine 30-Jährige eine verblühte Frau. "Tausche eine 40-Jährige gegen zwei 20-Jährige!" Der Witz, der bei den Stammtischbanketten unserer Großväter zirkulierte, hat heute deutlich an Biss verloren. Im Jahre 1801 betrug die mittlere Lebenserwartung gerade mal 30 Jahre. Ein halbes Jahrhundert später lag sie bei 38 Jahren für Männer und 41 Jahren für Frauen. 1913 wurden Männer im Schnitt 48, Frauen immerhin schon 52 Jahre alt. Heute sind die Altersheime von 100-Jährigen bevölkert, und auf den Fahrradwegen wimmelt es nur so von 80-jährigen Rentnern, die in bester körperlicher Verfassung mit dem Rad durch die Gegend düsen.
Die Medizin und die plastische Chirurgie sind so leistungsfähig geworden, dass man sich heute leicht in der Illusion wiegt, die Jugend sei beliebig ausdehnbar. Doch weder Schneewittchens Stiefmutter noch irgendein Anti-Aging-Präparat können verhindern, dass junge Mädchen schöner und frischer sind als ihre alternden Mütter. Und wo sich der mystische Jungbrunnen verbirgt, hat bislang niemand herausgefunden. Lea ist sich dessen vollkommen bewusst: "Diesen ganzen Jugendwahn finde ich über alle Maßen albern. Ich bin jetzt fast 80. Da will ich mich doch nicht mehr auf die Figur einer 30-Jährigen herunterhungern!" Keine Hormone, kein Lifting - das ist nicht zuletzt eine Frage der Würde. Als ich letzte Woche an der Terrasse eines schicken Kudamm-Cafés vorbeilief, fiel mir an einem der Tische eine Dame auf, deren Gesicht dermaßen geliftet und gepudert war, dass ich sofort an eine Barbiepuppe denken musste. An ihrer Seite saß ein Herr, der trotz seines reichlich vorgerückten Alters Lederhose und Cowboystiefel trug. Ich konnte sie förmlich ahnen, die Viagraschachtel in der Tasche des Rockers und den Push-Up-BH unter der Bluse seiner Barbie. Ein grotesker Anblick, und ein schrecklich trauriger zugleich.
Weil wir versuchen, alle Spuren des Alterns auszuradieren, ist das Altsein ein widerliches Tabu geworden, das es um jeden Preis zu verheimlichen gilt. Ganz zu schweigen vom Alltag der Altersheiminsassen, oder von jenen Krankenhausabteilungen für Alte, die schamhaft "Langzeitstationen" genannt werden und nichts anderes als Vorzimmer des Todes sind. Inkontinenz und Alzheimer, Windeln und Gebisse. Spaziergänge, die im Schneckentempo durch lange, keimfreie Korridore führen. Lange Tage, die gefüllt sind mit nichts als Warten, auf Mahlzeiten, die nicht mehr schmecken, und Besuche, die nicht mehr kommen. Ein totgeschwiegener Lebensabschnitt, der nichts gemein hat mit dem idyllischen Bild, das uns die Werbung vorsetzt. Und jeder von uns kennt das furchteinflößende Gefühl, die magenschnürende Angst, die sich unfehlbar beim Besuch eines Altersheims einstellt: Da müssen wir alle durch, und Gott allein weiß, ob wir das Glück haben werden, unseren Kopf und unsere Beine dann noch benutzen zu können.
Wäre es nicht viel leichter und viel würdevoller, den prometheischen Traum von der Beherrschung der Zeit aufzugeben und das Unausweichliche zu akzeptieren? Warum muss der körperliche Niedergang so ein Drama sein? Warum lässt man sich nicht demütig vom Fluss des Lebens treiben, anstatt mit aller Macht gegen den Strom anzuschwimmen? Claude Olivenstein, französischer Psychiater und Autor des Buches "Die Geburt des Alters", hat das Paradox unserer Epoche erkannt: "Mit jedem Tag drängt die Wissenschaft den Zeitpunkt unseres Todes ein Stück weiter zurück. Mitleidige Gespräche über die Alten sind Teil unserer Alltagsliturgie. Und gleichzeitig werden die Instrumente, die dem Alter Würde verleihen - das Wissen, die Macht - immer stumpfer."
Und wenn das Altern nun insgeheim im Begriff stünde, ganz neu bewertet zu werden? Eine Art Nostalgie für den Lebensabschnitt der Weisheit und Erfahrung spürt man inzwischen sogar in der glatten Welt der Werbung. Wie viele Waschmittelmarken und Konfitüresorten werden dort von wohlwollenden Großmüttern mit weißen Haaren angepriesen? Wie viele Lebensversicherungen und Bausparverträge von vorausschauenden Großvätern mit grauen Schläfen? Wenn Frank Schirrmachers Buch über das Altern Stufe für Stufe die Bestsellerlisten erklommen hat, dann liegt das vielleicht daran, dass - Jugendwahn hin oder her - ein reelles und nachhaltiges Bedürfnis besteht, das Alter, dieses letzte Kapitel des Lebens, neu zu bewerten. In Frankreich hat Régis Debray, 62, linker Schriftsteller und alter Weggefährte von Che Guevara, die Feder ergriffen, um "unsere Gesellschaft wieder mit sich selbst ins Reine zu bringen. Um die Schicht der ?betagten Menschen' wieder zum Teil der Nation werden zu lassen. Um die Schiffbrüchigen wieder auf den Radar zu bringen." In seinem Pamphlet, das diesen Monat veröffentlicht wird, zieht der alte Linke Debray die gleichen Schlüsse wie der junge Konservative Schirrmacher: "In unserer Gesellschaft, in der jeder oben sein soll und in sein soll, in der jeder dynamisch und leistungsfähig sein muss, soll das Alter nicht sichtbar sein, es soll nicht einmal ausgesprochen werden. Das Altern ist kein Reifungsprozess mehr. Es ist ein Sturz, eine Katastrophe. Und noch dazu eine Katastrophe, die die Allgemeinheit teuer zu stehen kommt." Debray rehabilitiert die Alten: Sie haben Geschichten zu erzählen, und weil sie sich weder um ihr Image noch um ihre Karriere mehr sorgen, entwickeln sie eine unkonventionelle Autonomie des Denkens. "Heute", schreibt Debray, "ist unter den so genannten ?has beens' mehr Bereitschaft zur Dissidenz zu finden als unter den Jungen, die tendenziell konforme Kopien des dominanten Modells sind!"
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich die Altersflecken auf den Händen meiner Großmutter jemals abgestoßen hätten. Ich erinnere mich nicht einmal daran, sie überhaupt bemerkt zu haben. Aber ich erinnere mich mit Liebe an die Geschichten, die sie mir erzählte. Und an die Ratschläge, die sie mir gab. Die Alten haben so viel gesehen! Einen, vielleicht zwei Weltkriege, die ersten Flugzeuge. Moden, Trauerfälle und verlorene Lieben. Sie beherrschen die Kunst des Relativierens, können Abstand gewinnen von Schmerzen, die uns unüberwindlich scheinen. Wer mit ihnen spricht, versteht, wie klein große Probleme sein können. Während die Haut an Spannung und die Sehkraft an Schärfe verliert, gewinnt man im Alter eine innere Ruhe, eine Freiheit des Denkens, gewinnt Einfallsreichtum und Leichtigkeit. Nicht jeder hat das Glück, in Frieden zu altern. Nicht jeder hat das Glück, Krankheit und Verbitterung zu entkommen. "Das Alter", sagt Lea, "will gut vorbereitet sein. Es ist wichtig, sein Leben so zu bejahen, wie es war, dieses innere Glücksgefühl zu erreichen." Seien Sie ehrlich: Wären Sie wirklich gerne noch mal 20 Jahre alt? Ist es nicht oft viel belebender, eine Stunde mit einer alten Dame zu verbringen, deren Hände voller Flecken sind, als mit einem Trendsetter im Trainingsanzug oder einem alternden Rocker, der auf der Terrasse eines Kudamm-Cafés Marlon Brando mimt? Das Alter misst sich nicht an runden Geburtstagen, die irgendein Küchenkalender vermerkt. "Man kann mit 30 alt und angepasst sein", sagt Lea. Genau das ist es, was die Werbung zu sagen vergisst, wenn sie uns eine strahlende Jugend vorgaukelt. Und man kann jung sein, so jung und voller Leben wie Lea mit ihren 80 Jahren.
(Aus dem Französischen von Jens Mühling)
Pascale Hugues lebt in Berlin und ist Korrespondentin des französischen Wochenmagazins "Le Point". Sie schreibt für zahlreiche Tageszeitungen wie die "taz" und den "Tagesspiegel".