Der Tod ist aus dem Alltag entschwunden
Tod ist wie Liebe unfassbar, unerklärlich, unbegreifbar. Mors definiri nequit. Mensch kann von ihm sowenig berichten wie vom Lebensbeginn. Früher war der Tod jung. Säuglinge starben im Wöchnerinnenbett, Soldaten ließen zu Millionen ihr Leben. Früher gehörte der Tod zum Alltag. Die Menschen starben zu Hause im Familienkreis, das größte Zimmer wurde leer geräumt, und der aufgebahrte Leichnam lag im Sonntagsstaat, Freunde wie Bekannte kamen vorbei für einen letzten Blick. Süßliche Verwesung belegte den Raum, bis die Glocke der Friedhofskapelle läutete.
Der Tod erlöst im christlichen Glauben vom irdischen Sündenpfuhl und bedeutet den Übergang in die Ewigkeit. Noch vor 50 Jahren starben zwei Drittel der Bundesbürger daheim, heutzutage erlebt jeder zweite sein Ende im Krankenhaus. Immer mehr Menschen haben noch nie einen Toten gesehen.
In den Jahren 1968 und folgende hat das Sterben den Sex als gesellschaftliches Tabu abgelöst. Tabu im aufgelockerten Sinn: nicht, dass Reden über Sterben ungehörig gewesen sei, vielmehr dass es in der bundesrepublikanischen 70er-Jahre-Gesellschaft keinen Platz hatte. Sterben und Tod verschwanden aus dem Alltag, die marktwirtschaftliche Zentralvokabel hieß und heißt Wachstum, kollektive Werte verabschiedeten sich zugunsten individueller wie Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Dieser Säkularisationsprozess erodierte den Glauben vom Weiterleben nach dem Tod. Das narzisstische Ich, sagt Sigmund Freud, kann sich einen Tod nicht vorstellen. Der Tod war nicht mehr nur als unbegriffener ein latent unheimlicher, sondern er war der Einbildungskraft entzogen. Für Freud sind diese Ichs nicht in der Lage, zum Realismus einer Endlichkeit vorzudringen.
Und auch die Ärzte, die Priester der aufgeklärten Demokratie, verstummten, wenn es ums Sterben ging. Eine positive Krebsdiagnose blieb bis zum Paradigmenwechsel in den 80er-Jahren ("patientenzentrierte Aufklärung") ihr Geheimnis. Der medizinische Fortschritt hat andererseits das Weiterleben nach dem Tod auf die Erde geholt. Beatmungsgeräte und Medikamente können ein Leben verlängern, obgleich der Mensch nach traditionellem Empfinden als tot gilt: Ohne Maschine würde sein Herz still stehen, sein Atem aufhören. Dadurch kann der Abschied von einem geliebten Menschen ins Diesseits verlegt werden, und der seiner jenseitigen Einbildungskraft beraubte Hinterbliebene kann sich auf das ihm eigentlich Unvorstellbare vorbereiten - wie etwa bei Jassir Arafat, dessen Sterben nicht ein paar Stunden, sondern ein paar Tage währte.
Der Sex schien den Tod ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückzubringen. AIDS galt als Seuche, als Pest des späten 20. Jahrhunderts. Pfarrer geißelten den Hedonismus vergangener Jahre und predigten Treue und Enthaltsamkeit. Gesundheitsministerien inszenierten Kampagnen, verteilten Kondome wie Kamelle unters Volk, boten den kostenlosen Test an. Der Tod blieb fern und unwirklich. Er betraf schillernd-schwule Bühnenfiguren wie Rock Hudson oder Freddy Mercury und wütete im afrikanischen Busch, aber doch nicht im bürgerlichen, ganz normal heterosexuellen Mitteleuropa. Und das nicht trotz Rockkonzerten, Benefizveranstaltungen mit höchstmöglicher Prominentenverdichtung, dem Welt-Aidstag am 1. Dezember und der passenden Schleife, sondern wegen. Der Tod blieb virtuell und abstrakt.
Zudem versprach der medizinische Fortschritt, die geeigneten Mittel zu finden. Und dann hieß es ja auch: man könne mit dem Erreger leben, weiter leben. Weiterleben trotz Todesurteil. Der Basketballer "Magic" Eavin Johnson schien ein gutes Beispiel zu sein.
Nun scheint der Tod wirklich zurückzukehren. Als Einzelgänger. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, die 1968 und folgende dem Sex die Fesseln nahmen, werden nun für den Tod reklamiert. Der Staat ist nicht mehr Richter über Leben und Tod, sondern der Einzelne. Die stetig steigenden Fälle von Selbsttötung - sie übertreffen mittlerweile die der Verkehrstoten - sind nur ein bedingt taugliches Indiz. Manifest aber sind die Debatten um Abtreibung und seit jüngster Zeit verstärkt um die Euthanasie, um den "schönen Tod". Wie jetzt der Gesetzentwurf des Justizministeriums zeigt, geht es neben der Frage, wo die Grenze zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe liegt, zunächst darum, ob ein Menschenleben unter Einsatz aller Mittel verlängert werden soll, wenn die Lage aussichtslos erscheint und der Patient nicht befragt werden kann, weil er ohne Bewusstsein ist. Die Niederlande haben vor drei Jahren eine Karte eingeführt, auf der die Bürger ihren Sterbewunsch vermerken können. Nur ist fraglich, ob eine solche Patientenverfügung etwas mit Selbstbestimmung zu tun hat, ob sie nicht, einmal gesetzlich verankert, unter dem "sanften Druck" der Verwandten und überhaupt herrschender gesellschaftlicher Meinung zustande kommt, weil man es ja so macht. Der Sterbende will ja niemandem zur Last fallen, nicht ein Bett belegen, das andere nötiger haben, nicht die Kosten unnötig in die Höhe treiben. Siebenmillionenfach soll in der Bundesrepublik jetzt schon über den eigenen Tod verfügt worden sein.
Es gehört zur Entwick-lung einer aufgeklärten Gesellschaft, alles in Regeln zu gießen, selbst das Nichtorganisierbare zu organisieren. Sterbeversicherung, Sterbevorsorge, Sterbebegleitung, Trauerseminare sind ja Angebote, die es vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht gab, gar nicht zu geben brauchte.
Hinter der Bürokratisierung verbirgt sich keine Enttabuisierung des Todes. Sie versucht dem Unheimlichen etwas von seinem Ungewissen zu nehmen. Aber eigentlich bleibt er fern. Wie auch anders, wenn eine Lebenserwartung von 90, 100 und noch mehr Jahren zum Alltag gehört, wenn im gentechnischen Zusammenhang spekuliert wird, dass ewiges Leben möglich sei, vielleicht noch in diesem Jahrhundert.
Die Menschen heutzutage wollen schnell und ohne Schmerzen sterben. Ein eigener Zweig der Medizin hat sich begründet, die Palliativmedizin, die dem Tod geweihten Patienten Schmerzen, wenn nicht zu nehmen, so doch zu lindern verspricht: psychisch und physisch. Der Morphiumverbrauch ist seit 1985 um das Zwanzigfache gestiegen.
Früher galt es als tugendhaft, mit Haltung zu sterben, das Leid zu ertragen - so wie Jesus am Kreuz. Früher gab es Riten, die sich an die überlieferte Tradition der Kirche hielten. Heute, da der Scheitelpunkt der Säkularisierung des Lebens durchschritten scheint, ist es Sache des Einzelnen, wie er mit den letzten Dingen verfährt, wie er auch mit der Rolle als Hinterbliebener umgeht. Wie die Erinnerung an jemanden gewahrt, wie seiner gedacht wird, ist eine Frage von Liebe und Zuneigung. Bezeichnend auch hier, dass immer weniger der reale Friedhof als denkmalerischer Ort angesehen wird, sondern der Bildschirm. Ein Friedhofsplatz im Internet kostet für zwei Jahre bei "memoria.de" zwischen 110 und 140 Euro.
Der Tod erscheint heute ferner gerückt denn je. Der Tod wird ja nur geregelt, um dann weggeschoben werden zu können in eine Unwirklichkeit. Eine Gesellschaft, in der nicht versucht wird, sich offen dem Tod zu stellen, die nicht versucht, den Tod zu bejahen, zu akzeptieren und ihn dadurch besiegt, ist geistig eine macht- und zahnlose, eine arme, welche die Fähigkeit verliert, Konflikte zu benennen und zu ertragen. Der sich selbst bestimmt gebende Einzelmensch müsste sich massenhaft zu einem weiterentwickeln, der Eigenständigkeit über Auseinandersetzung mit dem anderen erlangt: Beschäftigung mit dem Tod, dem äußerst anderen, als Grundvoraussetzung für das eigene Leben. Das bedeutete aber, sich vom Gedanken zu verabschieden, dass das Leben ein Privatbesitz sei.
Christoph Oellers ist freier Journalist und lebt in München.