Saarland: Massive Proteste gegen Sparpolitik
Trommeln und Trillerpfeifen machen einen Höllenlärm, ein Meer von Transparenten wogt durch Saarbrücken, Parolen wie "Rettet die Grundschulen" oder "Über den Schulen kreist der Schreier" springen ins Auge. Kultusminister Jürgen Schreier, der sich auch blicken lässt, schallt ein gellendes Pfeifkonzert entgegen. Ebenfalls ausgepfiffen wird der CDU-Fraktionsvorsitzende Peter Hans, als er ans Mikrophon tritt, Rufe wie "Pfui!" oder "Lügner" ertönen. Kinder tragen Holzkreuze mit den Namen von Grundschulen, die nach dem Willen der Regierung dichtgemacht werden sollen. Viele Bürgermeister wie etwa Fritz Decker aus Neunkirchen oder Hans-Heinrich Rödle aus Ottweiler haben sich eingereiht, Mitarbeiter des Saarländischen Staatstheaters (SST) marschieren mit. Sprecher von Elterninitiativen lassen an Ministerpräsident Peter Müller und Schreier kein gutes Haar, selbst die GEW-Bundesvorsitzende Eva-Maria Stange ist angereist und zieht kräftig vom Leder. Gut 10.000 Leute sind auf den Beinen, die größte Demonstration seit Jahren an der Saar.
Die Manifestation dieser Tage markiert den bisherigen Höhepunkt einer gewaltigen Protestwelle, die das ganze Land erfasst hat und die sich gegen die von der CDU-Regierung geplante Schließung von 90 Grundschulen zwecks Einsparung von zehn Millionen Euro richtet. Betroffen ist ein Drittel dieser Bildungseinrichtungen. Auch rund 100 Lehrerplanstellen sind bedroht. Jörg Dammann, Vorsitzender der Grundschul-Elternvertretung im Land, kündigt schon mal an, die Demonstration sei "nur eine kleine Kostprobe" von dem, was noch folgen werde.
In kurzer Zeit sind Dammann und Bernhard Strube, der Sprecher unzähliger Elterninitiativen vor Ort, zu populären Matadoren einer Volksbewegung avanciert. Ob in Heusweiler, Rehlingen, Fechingen, Kleinblittersdorf oder wo auch immer: Überall veranstalten Eltern mit ihren Kleinen im Schlepptau, Gemeinderäte unabhängig vom Parteibuch sowie Leute von der Feuerwehr und vom Fußballverein Fackelzüge, Info-Stände und Unterschriftensammlungen. Motto auf vielen Transparenten: "Die Schule muss im Dorf bleiben".
Lassen sich Dammann und Strube schon mal auf einem Parteitag der Saar-SPD feiern, so müssen sich Peter Müller und Jürgen Schreier an der Kulturfront eines bildungsbürgerlichen Aufstands erwehren. Das SST soll bis 2009 rund 25 Millionen Euro und damit ein Viertel seines Etats einsparen. Eine Spielstätte in Saarbrücken-St. Arnual macht bereits dicht, Opernproduktionen werden gestrichen, Programmhefte nicht mehr gedruckt, und das ist erst der Anfang. Nicht nur die Theaterbeschäftigten unter Intendant Kurt-Josef Schildknecht widersetzen sich den harten Einschnitten: Auch eine "Bürgerinitiative Staatstheater" macht mobil - und an deren Spitze stehen Staranwalt Egon Müller, Ex-Wirtschaftsminister Werner Klumpp (FDP) sowie regional prominente Unternehmer. Egon Müller sieht ein "Herzstück der Kultur im Land" bedroht. Mehr als 100.000 Unterschriften wurden gegen das Spardiktat gesammelt, unter der Parole "Zerschlagen: Nein!" zogen 1.000 Theaterleute und Sympathisanten mit einem Sarg zur Staatskanzlei.
Opposition gegen den Rotstift bei Grundschulen und beim SST, Landesbeschäftigte protestieren gegen Gehaltskürzungen, zudem lehnt sich die Industrie- und Handelskammer, ansonsten eher auf Seiten des CDU-Kabinetts, gegen Erhöhungen der Gewerbesteuer auf: Die Saar ist aufgewühlt wie seit Jahren nicht mehr. Fast entsteht der Eindruck, derzeit hole das Land den Wahlkampf nach: Der verlief vor dem Urnengang am 5. September politisch eher flau, der Ein-Mann-Show Peter Müllers konnte eine paralysierte SPD mit ihrem matt wirkenden Spitzenmann Heiko Maas kein Paroli bieten.
Wenige Wochen nach dem haushohen Sieg aber dekretierten Müller und Finanzminister Peter Jacoby angesichts der Haushaltsnotlage ein rigides Sparprogramm, die unvorbereitete Öffentlichkeit war konsterniert. Bei einem Etat von 3,3 Milliarden Euro für 2004 werden 800 Millionen neue Schulden aufgenommen, das ist ein Viertel des Haushalts. Gekürzt werden insgesamt 130 Millionen Euro. Maas geißelt einen "Wahlbetrug". In der Tat ist das Gefühl verbreitet, bei der Wahl im September von der CDU hinters Licht geführt worden zu sein. Auf kaum einer Demo fehlt dieser Vorwurf. Die Union betont zwar, auf die Notwendigkeit hingewiesen zu haben, angesichts der Finanzsituation und der demografischen Entwicklung öffentliche Aufgaben zu überprüfen und "in manchen Bereichen" Leistungsangebote zurückzuführen. Doch dieser Hinweis wurde, so er überhaupt erwähnt wurde, im Wahlkampf eher versteckt. Von der Schließung jeder dritten Grundschule war nie die Rede, das Staatstheater wurde gar nicht thematisiert.
Gegen alle Proteste will die CDU, ausgestattet mit einer absoluten Mehrheit, am Sparkonzept festhalten. Fraktionschef Hans wirft Kritikern "Realitätsverweigerung" vor, man werde "die notwendigen Entscheidungen" treffen, und dies "ohne Angst vor denen, die demonstrieren". Ministerpräsident Müller verteidigt das Aus für die Grundschulen, dieses Erfordernis sei angesichts sinkender Schülerzahlen und der Haushaltsnotlage "unbestreitbar". Die Klassengrößen würden auch künftig im Bundesschnitt liegen.
Indes erscheint offen, wie das große Kräftemessen ausgeht. Auch manche CDU-Bürgermeister begehren gegen die Schließung von Grundschulen auf - so etwa der Völklinger Bürgermeister Klaus Lorig, und der ist Präsident des Städte- und Gemeindetages. Den Kommunen passt auch nicht, dass sie künftig die Kosten für den Schülertransport zu entfernten Standorten tragen sollen. Beifall findet Elternsprecher Dammann für seine Forderung nach Runden Tischen auf Landes- und regionaler Ebene, an denen alle Beteiligte nach Lösungen suchen sollen.
Vor allem aber gibt die Protestwelle der Opposition Auftrieb. SPD, Grüne und FDP schlagen sich auf die Seite der Betroffenen. Die größte Gefahr dürfte der CDU-Regierung von dem Volksbegehren drohen, das die Initiative "Rettet die Grundschulen" starten will. Heiko Maas unterstreicht, die SPD werde diesem Vorstoß "jede nur mögliche Unterstützung gewähren". Auch die Fraktionsvorsitzenden Hubert Ulrich (Grüne) und Christoph Hartmann (FDP) sind für ein Volksbegehren. Unabhängig von dessen Ausgang hält eine solche Aktion auf jeden Fall über Wochen und Monate den Widerstand gegen Müllers Rotstift-Politik wach.