Den Geist der Freiheit wird China so schnell nicht wieder los
Der Tod Zhao Ziyangs hat der kommunistischen Führung erneut ihr Dilemma offenbart: wie das Notwendige tun, ohne die Kontrolle zu verlieren? Im Klartext: wie begraben wir einen beliebten, aber von uns gestürzten Sekretär, der 1989 öffentlich mit den politischen Forderungen der Studenten sympathisierte? Die chinesische Führung konnte sich nur für eine streng kontrollierte, halb-öffentliche Beerdigung entscheiden. Kein offizielles Zeichen des Respekts hätte Pekings Angst vor dem Geist der Demokratie offen gelegt und das Unverständnis der Bevölkerung auf sich gezogen. Aber auch wenn eine Protestbewegung wie im Jahre 1989, ausgelöst durch den Tod des gestürzten KP-Chefs Hu Yaobang unwahrscheinlich schien, so lag ein Zhao rehabilitierendes Staatsbegräbnis außerhalb von Pekings Handlungsoptionen. Die chinesische Führung wollte und will kein Signal für eine Neubewertung politischer Forderungen senden. Angesichts des Dilemmas der Regierung ist Zhaos Person dennoch zu einem Symbol für die Chancen und Grenzen von Demokratie in China geworden. Die Zeichen der Zeit sind oft merkwürdig.
Je kränker Zhao wurde, desto mehr entzauberte Staats- und Parteichef Hu Jintao die mit ihm verbundenen Erwartungen politischer Liberalisierung. Im vergangenen Jahr hat er in puncto Festnahmen von Internetaktivisten, Schließungen von Zeitungen und die Ausschaltung von kritischen Stimmen "öffentlicher Intellektueller" den als politischen Hardliner geltenden Vorgänger Jiang Zemin übertroffen. Auch gegenüber Taiwan schlägt Hu weiterhin harte Töne an: "Separatistische Tendenzen" duldet China nicht, deutlich niedergelegt in dem Weißbuch zur nationalen Verteidigung 2004. Dass der 54-jährige das Militär fest im Griff hat, demonstrierte Hu durch die Begleitung hochrangiger Generäle zur Jahrestagsfeier der Rückgabe Macaos im Dezember vergangenen Jahres. Erst kurz zuvor hatte Hu den Parteiposten des Militärchefs von Jiang Zemin übernommen.
Überraschend sind die skizzierten Entwicklungen nicht. Der als "schwarzes Pferd der Demokratie" gehandelte Hu - im Chinesischen ein Synonym für Überraschungssieger - hat sich als Tiger entpuppt. Zu große Sprünge hatten manche Beobachter von der neuen chinesischen Führung erwartet, die Beharrungskraft des Systems und den Machtwillen der Partei unterschätzt. Denn der frisch eingesetzte Hu und sein Regierungschef Wen Jiabao hatten verheißungsvoll losgelegt: für die Vertuschung der SARS-Krise nicht direkt verantwortlich, bekämpfte die chinesische Führung die Lungenkrankheit mit Transparenz und Volksnähe. Sie verliehen den "schwachen Gruppen" der Bauern und Migranten eine Stimme, setzten auf nachhaltige Entwicklung und Reduzierung sozialer Disparitäten. Die Aufnahme des Schutzes von Menschenrechten und Privatbesitz in die Verfassung galt als Beweis für Hus politischen Parolen, "vom Volk ausgehend" (yi min wei ben) und - spitzfindig übersetzt - "mit Recht regieren" (yi fa zhi guo). Als leere Versprechungen stehen nun die einst gelobten neuen Akzente der chinesischen Führung im Lichte von Zhaos Begräbnis dar. Und doch sind es mehr als Worthülsen. Denn sie zeigen, dass das kommunistische Regime die Notwendigkeit sich zu ändern ernst nimmt. Diese Einsicht erwächst aus einer auch zunehmend öffentlich eingestandenen Erkenntnis, dass Chinas einseitiger Modernisierungsprozess der 1990er Jahre sozialen Unfrieden mit sich gebracht hat. "Vom Volk ausgehend" muss die Regierung ihre Macht stabilisieren, Wirtschaftswachstum allein ist keine Legitimationsbasis mehr. Deshalb hat Hu Jintao den chinesischen Neujahrsbeginn am 9. Februar in der Armutsregion Guizhou verbracht. Einem bemerkenswerten Gang nach Canossa kommt der Besuch von Regierungschef Wen Jiaobao bei Aidskranken in der Provinz Henan gleich. Zu lange hatte die chinesische Führung dort jede Unterstützung verweigert, moralische Bedenken über sexuelle Aufklärung gestellt und die gesellschaftliche Stigmatisierung der Betroffenen zugelassen. Beijing muss seine Politik dem Druck von unten anpassen.
Der Zwang zum Wandel um der Macht willen offenbart zunehmend die Widersprüche und Grenzen systemimmanenter Reformen. Beispiel 1: Um lokalen Protesten und Korruption vorzubeugen, sollen nun auch Dorfparteisekretäre dem Willen des Volkes verantwortlich sein. Aber zuallererst will Beijing sie auf die Linie der Zentrale und der Partei einschwören. Der Zielkonflikt ist vorprogrammiert: durch die Rezentralisierung des Steuersystems sinken die Einnahmen der lokalen Regierung weiter, während der Druck von oben zur Zielerfüllung steigt. Laut einer Studie von Zhao Shukai, Mitglied des chinesischen Staatsrates, sind 80 Prozent der Lokalregierungen derart tief verschuldet, dass sie ihre Mitarbeiter nicht bezahlen können. Illegale Einnahmequellen scheinen aus Sicht der Lokalkader ein notwendiger und bequemer Ausweg. Beispiel 2: Korruptionsbekämpfung durch "innerparteiliche Demokratie". "Machtausübung ohne Beschränkungen oder Überwachung führt zwangsläufig zu Machtmissbrauch und Korruption", sagte Hu Jintao im September letzten Jahres. Da die Partei keine Macht abgeben will, kann sie sich selbst überwachen und weiter verlieren im Kampf gegen die Korruption. Eine Unterordnung der Partei unter die Verfassung oder eine auch von Zhao Ziyang angedachte Trennung von Staat und Partei würde den Untergang des jetzigen kommunistischen Regimes bedeuten. Umso erstaunlicher sind die jüngsten Aktivitäten des staatlichen Umweltbüros zu bewerten. Der als Querulant bekannte Chef Pan Yue ließ nicht nur drei Dutzend lokale Infrastruktur- und Energieprojekte stoppen, sondern zieht nun auch offiziell gegen das Projekt am Drei-Schluchten-Damm zu Felde, dem nationalen wie internationalen Prestigeobjekt der chinesischen Führung. Das Engagement des Umweltbüros geschieht in einer dynamischen Allianz mit Nichtregierungsorganisationen. Auch wenn deren Einfluss in anderen Politikbereichen marginal ist, sind ihre Aktivitäten Ausdruck eines wachsenden politischen Selbstbewusstseins. Durch clevere Eigeninitiativen erhöht die Bevölkerung den Anpassungsdruck auf Peking. Sie nutzt das politische System auf neue und kreative Weise - auch gegen die chinesische Führung.
Bewohner von zum Abbruch bestimmten Häusern marschieren mit der Verfassung unterm Arm gegen Behörden, Bauern besorgen sich Anordnungen der Zentralregierung und setzen damit lokale Kader unter Druck. Sie pochen auf Versammlungsfreiheit für autonome Bauernverbände. Die Internetgemeinde fordert bei Vertuschungen ihr "Recht auf Wissen" ein und fragt, warum nur parteiintern Demokratie praktiziert werden kann. Rechtswissenschaftler fordern Untersuchungsausschüsse und schreiben Petitionen an den nationalen Volkskongress.
Dieses kreative Denken reicht allerdings längst bis in die eigene Reihen der Partei . In der "Volkszeitung" attackiertt Shao Jingjun, in jungen Jahren erbarmungsloser Kritiker der "Viererbande" um Mao Zedongs Frau Jiang Qing, die mangelnde Bereitschaft mancher Führungskader, eine gleichberechtigte Diskussion von unterschiedlichen Meinungen in der Partei zu fördern. Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Xiao Yang, betonte jüngst in einem Aufsatz der Parteizeitschrift "Rote Fahne" die Wichtigkeit von Parteiaktivitäten "unter und nicht über der Verfassung und den Gesetzen".
Solche Stimmen waren in der Anfangszeit der Partei an der Tagesordnung: "Wie kann Demokratie möglich sein, ohne die Einparteienherrschaft zu beenden. Gebt die Rechte des Volkes dem Volk zurück", schrieb die Xinhua Daily, damaliges Parteiblatt am 27. September 1945, als die kommunistische Bewegung gegen die Regierung der Nationalisten kämpfte. Und schon 1939 verkündete das Sprachrohr der Partei: "Sie [die Nationalisten] wollen Demokratie erst praktizieren, wenn die Chinesen so gebildet und wissend sind wie in den Demokratien Europas und Amerikas (...). Aber nur unter einem demokratischen System kann das Volk eine bessere Ausbildung genießen." Damals wie heute ist die chinesische Bevölkerung reif, eine Demokratie nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten.