Georgiens dornenreicher Weg zur Demokratie nach der Rosenrevolution
Tiflis. Auf den ersten Blick scheint sich in der Hauptstadt Georgiens nicht viel verändert zu haben. Die Straßen sind mit Schlaglöchern übersät, viele Häuser vom Einsturz bedroht. Wer nachts durch das Zentrum geht, wandert durch absolute Finsternis. Nur der Rustaweliprospekt, dort wo sich das Parlament, die Oper und zwei große westliche Hotels befinden, ist beleuchtet, so scheint es. Doch dann entdeckt der sporadische Besucher ein paar neue Ampeln. Einige Häuser wurden im vergangenen Jahr renoviert. Es gibt neue Geschäfte. Und irgendwann fällt ihm auf: Auch die alte korrupte Straßenpolizei ist weg. Die Beamten haben einen früher, wie eine Gruppe von Wegelagerern, alle paar Kilometer angehalten und unter dem Vorwand, man habe gegen eine ungeschriebene Verkehrsregel verstoßen, abkassiert. Doch Michail Saakaschwili hat sie entlassen und statt dessen freundliche, gut bezahlte und deswegen nicht mehr korrupte Beamte auf die Straße geschickt. "Die frühere Regierung hat versucht, die sozialen Probleme dieses Landes damit zu lösen, die Menschen auf die Gehaltsliste des Staates zu setzen", erklärt der seit rund einem Jahr regierende georgische Präsident. "Sie hat der Bevölkerung gesagt: Wir können Euch zwar so gut wie kein Gehalt zahlen, aber wir geben Euch eine Position, und Ihr könnt dann zusehen, wie Ihr Euch davon ernährt. Das geht zu Lasten der Gesellschaft."
Früher bekam ein Polizist 20 Euro im Monat. Heute liegt der Minimallohn bei 200 Euro, und offenbar wird das Gehalt auch tatsächlich, anders als unter der Schewardnadse-Regierung, pünktlich und vollständig gezahlt. Möglich sei das, weil es der neuen georgischen Regierung gelungen sei, die Zolleinnahmen zu verfünffachen, erklärt Michail Saakaschwili, "und die Steuereinnahmen sind jetzt zwei ein halb mal so hoch". Doch die Darstellung stimmt nur zum Teil. Um solche Reformen wie die der Straßenpolizei zu ermöglichen, haben auch verschiedene internationale Geldgeber die neue Regierung mit Zuschüssen unterstützt. Die Weltbank beispielsweise hat Georgien außerhalb des normalen Kreditprogramms eine Haushaltshilfe gewährt. Und auch die EU, die USA und viele kleine wie große Hilfsorganisationen haben Finanzmittel bereit gestellt.
Dass sich die Einnahmen des georgischen Staates darüber hinaus tatsächlich erhöht haben, so hängt das vor allem mit der Wiederherstellung der zentralstaatlichen Ordnung in der autonomen Republik Adscharien zusammen. Die an der Grenze zur Türkei gelegene Schwarzmeerprovinz gehört zu den reicheren Regionen Georgiens. Adscharien besitzt einen Hafen, einen Erdölterminal und zahlreiche Hotels, und die Region verdient am Transitgeschäft zur Türkei. Jahrelang hatte sich der korrupte Regionalfürst Aslan Aba-schidse und sein Clan an den Steuer- und Zolleinnahmen sowie durch Bestechungsgelder bereichert. Durch eine spektakuläre Machtdemonstration und mit Hilfe ähnlicher, zum Teil auch gesteuerter Demonstrationen wie bei der Rosenrevolution gelang es Saakaschwili, Abaschidse zum Rücktritt zu zwingen. Seither fließen die Einnahmen aus dem Steueraufkommen und die Zollabgaben wieder an den Staat.
Außerdem hat sich die neue Regierung eine zusätzliche Einnahmequelle erschlossen, die viele allerdings für fragwürdig halten und deren Kapazität begrenzt ist. Mitglieder und Anhänger der alten Regierung werden aufgrund von Korruptionsvorwürfen, aber ohne Vorlage von Beweisen verhaftet. Viele von ihnen kaufen sich von den Anschuldigungen frei, auch auf die Gefahr hin, dass sie so automatisch als geständig gelten, denn die Verhältnisse in den Untersuchungsgefängnissen sind katastrophal. Zehn-Mann-Zellen sind mit 40 Gefangenen belegt. Die Häftlinge schlafen in vier Schichten. Mitarbeiter von internationalen Menschenrechtsorganisationen berichten sogar von Folter. Michail Saakaschwili rechtfertigt die Politik: "Der Schwiegersohn von Schewardnadse - er war wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis - hat genug Geld an den Staat gezahlt, um allen georgischen Rentnern zwei Monate lang ihre Pension zahlen zu können. Was ist jetzt gerechter? Diesen Mann im Gefängnis zu lassen oder die Rentner glücklich zu machen?"
Die georgische Bevölkerung scheint ein anderes Rechtsempfinden zu besitzen. Eine Passantin am Rustaweliprospekt in Tiflis sagt: "Das ist nicht korrekt. Sie müssen die Fälle erst untersuchen und dann die Leute verhaften. Sehr viele ehrliche Menschen sind umsonst verhaftet worden. Ich meine, Saakaschwili macht einen großen Fehler." Viele andere Georgier sind ähnlicher Meinung. Selbst ehemalige Mitstreiter des Präsidenten werfen der Regierungsmannschaft vor, die Ziele der Rosenrevolution, wie die Etablierung eines demokratischen Rechtstaates zu verraten. Die Juristin und ehemalige Vorsitzende einer gesellschaftlich engagierten Gruppe von jungen Anwälten Tinatin Khidasheli sagt: "Ich denke, dass der Präsident und sein Team einen großen Fehler gemacht haben, den sie nicht mehr korrigieren können. Sie haben die Chance verpasst, in der Gesellschaft Respekt für das Gesetz und die staatlichen Institutionen zu etablieren."
Dass das Rechtssystem in dem Kaukasusstaat nicht respektiert wird, hängt nicht allein mit der Politik Saakaschwilis und seiner Regierung zusammen. Georgien ist von jeher eine auf Clan- und Vetternwirtschaft aufgebaute Gesellschaft. In Bezug auf das Rechtssystem bedeutet das: Jeder versucht die Richter mit Geld oder guten Beziehungen zu bestechen. Und die Richter sind es schließlich gewohnt, dieser Versuchung nachzugeben. Um in Georgien einen funktionierenden Rechtsstaat zu etablieren, muss man die Mentalität von rund fünf Millionen Menschen ändern. Doch dazu muss man ein gutes Vorbild abgeben und braucht Geduld. Michail Saakaschwili widerspricht: "Für Reformer gibt es immer nur ein kurzes Zeitfenster, die Reformen umzusetzen. Wenn man die Zeit nicht nutzt, schließt sich das Fenster und es wird sich nie wieder öffnen."
Die Kritiker werfen dem Präsidenten zudem vor, seine Politik mit nationalistischen und populistischen Tönen zu garnieren. "Es herrscht immer noch eine postrevolutionäre Rhetorik vor", so Tinatin Khidasheli. "Jeder, der eine abweichende Meinung hat, wird als Verräter und Feind bezeichnet. Und die Praxis, nach äußeren Feinden zu suchen, hat immer noch Erfolg."
Ob Nationalismus, Populismus oder der Drang nach schnellen Erfolgen - im Zusammenhang mit den vielen in Georgien lebenden Minderheiten und den ungelösten Territorialfragen sind alle drei gefährlich. Die seit Jahren andauernden Konflikte in den beiden abtrünnigen Provinzen Südossetien und vor allem Abchasien empfindet jeder Georgier als schmerzende Wunde. Tausende Vertriebene warten darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu können, und auch ihre Landsleute wollen sich nicht mit dem Verlust einer der schönsten und ehemals reichsten Landschaften Georgiens abfinden. Verwöhnt durch den Erfolg in Adscharien, hat Michail Saakaschwili der georgischen Bevölkerung daher im letzten Frühjahr zugesagt, die Konflikte mit Südossetien und Abchasien innerhalb weniger Monate zu lösen. Doch als die Regierung im Sommer 2003 an der Grenze zu Südossetien harte Kontrollen gegen Schmugglerbanden durchführte, eskalierte der jahrelang ruhig verlaufene Konflikt. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die ohne das Einwirken internationaler Vermittler eventuell in einen erneuten Krieg gemündet wären.
In Georgien leben Armenier, Aseris, Russen, Osseten, Abchasen, Adscharen, Griechen, Ukrainer, Juden, Katholiken, und Zeugen Jehovas, um nur einige der Minderheiten zu nennen. Traditionell werden in der gesamten Kaukasusregion insgesamt 45 verschiedene Sprachen gesprochen. Heute sind vor allem noch die religiösen Minderheiten hinzugekommen Diese Völkervielfalt stellt für jede Regierung ein schwieriges Problem dar. Denn alle Bevölkerungsgruppen haben ihre eigenen Interessen, die sie versuchen, den anderen gegenüber durchzusetzen. Konflikte sind unausweichlich. Um aus dem von Clanstrukturen beherrschten Land einen funktionierenden Staat zu errichten, muss man Partikularinteressen beiseite stellen und ein Gemeinwesen etablieren. Nach einem gemeinsamen suchen die Georgier seit Jahren.
Nachdem Nationalismus und Bürgerkrieg Georgien zu Beginn der 90er-Jahre gespalten hatte, setzte Schewardnadse auf Ausgleich und Zeit. Er wollte die alten Wunden heilen lassen, damit sich danach durch gemeinsame Politik und das wirtschaftliche Geschehen das Interesse an einem gemeinsamen Staat von allein entwickeln könnte, so das Konzept. Vieles ging schief. Die Menschen vergaßen, dass sie es waren, die Recht, Ordnung, Disziplin und alles, was zu einem Staatswesen dazu gehört, durchsetzen mussten.
Michail Saakaschwili versucht es mit einem anderen Konzept. Die Rückbesinnung auf die eigene Identität soll den Georgiern den Glauben an ein Gemeinwesen zurückbringen, schnelle Reformen sollen den Menschen zeigen, dass ein gemeinsamer Staat funktionieren kann. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hat er seinen Landsleuten eine neue, patriotisch angehauchte Nationalhymne verordnet. Das Banner seiner Partei, geschmückt mit dem Familienwappen der früheren georgischen Königsdynastie, hat er als Staatsflagge erkoren. Die fünf roten Kreuze darauf sind gleichzeitig ein Sinnbild für die stärkere Betonung des Christentums in seiner Ära.
Bei Adscharien hat die Politik der nationalen Stärke funktioniert. Die neue Regierung konnte die autonome Republik vom Joch der Claninteressen Abaschidses befreien. Bei Südossetien ist das Experiment nicht geglückt. Dort hat die harte Hand wertvolles Porzellan zerschlagen. Jahrelang haben sich internationale Organisationen, allen voran die OSZE, darum bemüht, das durch den Bürgerkrieg Anfang der 90er-Jahre zerbrochene Vertrauen beider Bevölkerungsgruppen wieder aufzubauen. Mit Hilfe von gemeinsamen Menschenrechts- und Demokratieprojekten haben sie erreicht, dass die georgischen und südossetischen Dörfer wieder einigermaßen friedlich miteinander umgingen. Die Eskalation des letzten Sommers haben Angst und Gewalt wieder aufflammen lassen. In den aserisch bewohnten Gebieten haben, Berichten internationaler Organisationen zufolge, die Konflikte mit Georgiern zugenommen. In Georgien ist derzeit vieles von erfolgreichen Reformen bis hin zum Wiederaufleben alter Probleme möglich.