Schüler als EU-Parlamentarier
An den Regeln wird nicht gerüttelt: Die anderen Redner mit Respekt behandeln. Keine Zwischenrufe, und Applaudieren nur nach einer Rede oder der Verabschiedung einer Resolution. Nach Aufforderung zur Rede erst für das Wort danken, dann den Namen nennen. Der Konsum von Speisen und Getränken ist nicht gestattet, das Rauchen verboten und die Toilette nur durch die Hintertür aufzusuchen.
Der "Präsident" des Europäischen Parlaments wacht streng über die Einhaltung der Formalitäten, korrigiert und ermahnt, wenn es nötig ist. Die "Delegierten" stört das nicht. Im Gegenteil, sie sitzen mit ernsten Mienen kerzengerade auf ihren Plätzen, kein Gekicher oder Getuschel ist zu hören. Dabei sind die Damen und Herren Abgeordneten im Plenarsaal des Bundesrates kaum älter als 16. Fein gemacht haben sie sich, nur die bunten Rucksäcke in den Reihen lassen erahnen, dass hier Zehntklässler sitzen.
Der Verein "Modell Europa Parlament Deutschland" (MEP) bietet den Jugendlichen aus allen 16 Bundesländern fünf Tage lang die Möglichkeit, sich in Berlin als EU-Abgeordnete zu versuchen und über aktuelle europäische Themen zu beraten. Am Ende der Woche wird über selbst erarbeitete Resolutionen debattiert und abgestimmt - wie im echten Europa-Parlament. Schnell begreifen die Schüler, warum man von einer "Sitzung" spricht: Hier sitzt und sitzt man, stundenlang. Allein die Beratung über eine Resolution nimmt fast zwei Stunden in Anspruch. "Man braucht schon enormes Sitzfleisch", sagt Yannick Suchert, einer der Teilnehmer, aber so schlimm findet er das auch wieder nicht: "Dafür ist es viel zu interessant."
Sechs Monate lang haben sich die Schüler in Arbeitsgemeinschaften auf diese Simulation vorbereitet. Sie haben an ihrer Rhetorik gefeilt, gelernt, wie man Resolutionen verfasst und die inhaltlichen Positionen der einzelnen EU-Länder zu Themen wie "Alternative Energien" oder "Anti-Terror-Programm" herausgearbeitet. Dementsprechend gewappnet gehen die Schüler in die Debatte. Ihre Reden klingen wie die echter Politiker (bedauernswerterweise sogar ein bißchen zu sehr). Wie selbstverständlich sprechen sie vom "Änderungsantrag zum operativen Satz Nummer 3" und jonglieren mit Begriffen wie "Technologietransfer", "Energieeffizienz" oder "global compact", als ginge es um die letzte Mathe-Note. Bevor sie an das Mikro treten, knöpfen sich die Jungen noch artig das Sakko zu. Manchmal fällt es schwer zu glauben, dass das alles nicht echt sein soll.
Bald beherrschen alle die Fomalitäten aus dem Eff-Eff. "Danke für das Wort", heißt es immer wieder, sobald ein Schüler das Wort erteilt bekommt. "Entschuldigung, Herr Präsident", wenn es vergessen wurde. Nastasja Rykaczewski findet das in Ordnung: "Auch wenn es nur eine Simulation ist, wollen wir ja ernsthaft und möglichst realistisch die Arbeit des EU-Parlaments nachempfinden." Möchte sie nach den Erlebnissen der letzten Tage selbst gern Abgeordnete werden? "Nein", sagt sie entschieden. "Die diskutieren ja von morgens bis abends. Ständig sind irgendwelche Sitzungen. Das ist viel zu anstrengend." Christoph Stelter dagegen könnte sich das vorstellen: "Hier habe ich gelernt, wie man Reden hält und andere Leute überzeugt. Als Parlamentarier kann man etwas verändern, sich für wichtige Dinge einsetzen, den Nahost-Friedensprozess zum Beispiel."
Etwas später sinken die Ersten doch tiefer in ihre Sitze. Nach vierstündiger Debatte lässt die Konzentration nach. Nastasja Rykaczewski weiß deshalb nach diesen Strapazen eines ganz genau: "Ich habe jetzt mehr Respekt vor den Politikern, seit ich erfahren habe, welches Pensum die täglich bewältigen müssen."