Osteuropas steiniger Weg in eine demokratische Kultur
Die EU-Erweiterung im Mai 2004 und die tektonischen Verschiebungen in der Ukraine in Richtung Demokratie stehen unmittelbar im Zusammenhang mit der Auflösung des sowjetischen Blocks und dem Zerfall der Sowjetunion. Die Ereignisse am östlichen Rand Europas sind noch viel komplexer als die Vereinigungsprobleme in Deutschland. Einen sehr informativen Beitrag zur Aufklärung leistet der Regensburger Politikwissenschaftler Jerzy Mackéw mit diesem Buch.
Der Autor untersucht die Transformationsgesellschaften mehrerer osteuropäischer Länder anhand der Begriffe Nation, Zivilgesellschaft und außenpolitische Integration. Mit Polen und Litauen sind zwei Länder inzwischen Mitglieder der EU. Polen hat einen über Jahrhunderte wiederkehrenden Wechsel zwischen Teilung und Eigenstaatlichkeit erlebt. Es war zwar Mitglied des sowjetischen Blocks, verfügte aber über ein ausgeprägtes nationales Selbstbewusstsein und in den letzten Jahren vor der europäischen Wende über einen Sonderweg, der wie selbstverständlich nach Europa führte. Demgegenüber war Litauen nur in der kurzen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen selbständiger Staat und danach eine der Republiken der Sowjetunion.
Diese Schicksal teilen auch Belarus (Weißrussland) und die Ukraine. Letztere besaß zwar bis in die frühe Neuzeit eine eigene Staatlichkeit, war aber seit etwa 350 Jahren Bestandteil Russlands, später der Sowjet-union. Für Belarus gilt ähnliches. Beide Länder haben im Zuge der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg territoriale Veränderungen größeren Ausmaßes erlebt.
Schließlich untersucht der Autor Russland selbst und gewinnt damit einen Ausgangspunkt für seine vergleichende Beschreibung von Voraussetzungen und Entwicklungen bei der Nationenbildung und der Entwicklung von Zivilgesellschaften in den fünf Ländern. Dabei werden kaum erschlossene nationalstaatliche Quellen und Beschreibungen mit großen Aufwand zu politischen Entwicklungs-Szenarien zusammengesetzt, die zu dem besten zählen, was zur Zeit aus diesem sich von Westeuropa so fundamental unterscheidenden, gleichwohl zum selben historischen und kulturellen Raum gehörenden Großgebiet zu lesen ist.
Tabellen und Karten, statistische Angaben und die Verwendung anerkannter politikwissenschaftlicher Methoden sichern dem Buch den Rang eines Standardwerks, das sich durch seine gute Lesbarkeit auszeichnet und auch für den "Hausgebrauch" geeignet ist. Als Fazit ist für alle Länder ein hohes Defizit an zivilgesellschaftlichen Strukturen auszumachen, es ist unterschiedlich hoch. Polen und Litauen werden es nach der kaum zu bezweifelnden Prognose des Autors schon wegen ihrer Zugehörigkeit zur EU am ehesten überwinden. In der Ukraine sind allererste Ansätze zu erkennen, die durch die jüngsten Ereignisse einen eigenen Schwung bekommen haben.
Das eher autokratische Regime Putins in Russland verfügt nach Mackéw vor allem wegen der ausgeprägten Passivität der Bevölkerung und einer "Rechtskultur", die sich an der Missachtung der Gesetze orientiert, derzeit über keine zivilgesellschaftliche Alternative. Weißrussland ist in dieser Hinsicht so etwas wie der weiße Fleck auf der Landkarte eines demokratischen Europas.
Jerzy Mackéw
Am Rande Europas?
Nation, Zivilgesellschaft und außenpolitische Integration in Belarus, Litauen, Polen, Russland und der Ukraine.
Herder Verlag, Freiburg/Br.2004; 328 S., 16,- Euro