Öffentliche Empörung im NS-Staat und in der DDR
Skandale haben Konjunktur - das bezeugt nicht nur die Boulevardpresse, sondern auch das gestiegene wissenschaftliche Interesse. Der Blick ist dabei bislang durchweg auf westliche Demokratien gerichtet gewesen. Nur in demokratischen Systemen können Medien frei über Verfehlungen berichten. Nur hier existiert eine autonome Öffentlichkeit, die als konstitutiv für die Ingangsetzung der Dynamik von Missstand, Aufsehen und Empörung gilt.
Mit dem vorliegenden Sammelband stellt Martin Sabrow diese "conventional wisdom" in Frage. Skandale, so der Herausgeber in seinem programmatischen Einführungsartikel, hat es auch in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts gegeben. Da Skandale ohne Öffentlichkeit ein Widerspruch in sich sind, muss er allerdings einen "deskriptiven" Öffentlichkeitsbegriff zu Grunde legen: Versteht man öffentliche Räume als die Gesamtheit vom Regime nicht vollständig reglementierter sozialer Kommunikation, so hat es im Nationalsozialismus wie auch in der DDR verschiedene (Teil-)Öffentlichkeiten gegeben.
Sabrow unterscheidet drei Typen von Skandalen in der Diktatur: inszenierte, affirmative und Fundamentalskandale. Inszenierter Skandal meint die kontrollierte Erzeugung öffentlicher Empörung durch die Herrschenden zum Zwecke der Machtsicherung oder des Machtausbaus. Im Gegensatz dazu fordern die von "Unten" initiierten Fundamentalskandale das bestehende Regime heraus und nutzen dafür eine Gegenöffentlichkeit beziehungsweise bauen diese auf. Affirmative Skandale schließlich zeichnen sich dadurch aus, dass sie politische Missstände zwar thematisieren, von einer Verantwortung des herrschenden Systems jedoch gezielt ablenken. Mittels eines fingierten Konsenses zwischen Regime und Bevölkerung wird die Empörung stattdessen gegen einzelne Funktionsträger oder innerparteiliche Gegner gerichtet.
Die Fallstudien des Sammelbandes, von denen fünf Skandale während der NS-Herrschaft analysieren und die vier weiteren sich auf Fälle öffentlicher Empörung im SED-Staat beziehen, bieten Beispiele für alle drei Typen von Skandalen. So veranschaulichen Susanne zur Nieden und Sven Reichardt, wie bei der blutigen Entmachtung der SA-Führung 1934 die Ausschaltung innerparteilicher Gegner geschickt zur Legitimierung des Regimes genutzt wurde. Während die Ermordung Röhms und seiner Gefolgsleute den Charakter einer Inszenierung trug, stellte der Flug von Hitlers Stellvertreter Heß nach England 1941 das Gegenteil dar: Er traf das NS-Regime gänzlich unvorbereitet und hatte zugleich alle Ingredienzien eines Skandals. Armin Nolzen dokumentiert in seinem Beitrag zum England-Flug, wie es dem NS-Regime gelang, durch Verschweigen, Repression und kommunikative Gegenoffensive den aufgezwungenen Skandal zu unterdrücken beziehungsweise sogar in einen affirmativen umzuwandeln. Ein seltenes Beispiel für einen Fundamentalskandal im totalitären Staat analysiert Winfried Süß mit der Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen gegen die Euthanasie im Sommer 1941. Begünstigt durch eine Legitimationskrise des Dritten Reiches und die Ablehnung kirchenfeindlicher Maßnahmen in Teilen der Bevölkerung trug der schnell inner- und außerhalb der Kirchen verbreitete Protest nach Auffassung von Süß zur zeitweiligen Aussetzung der Massentötung von Kranken bei.
Von den vier Beiträgen zur DDR thematisieren zwei Skandalisierungsversuche, die gegen das System gerichtet waren: die Herausforderung der SED durch Robert Havemann (Bernd Florath) sowie ein Vergleich von Skandalen während der Hoch- und der Spätphase der DDR (Martin Sabrow). Sabrow stellt den Zusammenbruch des SED-Regimes dabei als eine spätestens mit der Fälschung der Kommunalwahlen 1989 einsetzende Kette von Skandalisierungen des real existierenden Sozialismus durch die Gegenelite dar. Anders als noch 1976 bei der Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz gelang es dem in seiner Legitimation angeschlagenen Regime Ende der 80er-Jahre nicht mehr, der öffentlichen Erregung propagandistisch zu begegnen.
Die große Bandbreite der untersuchten Skandale - darunter auch der Sturz des Gauleiters Streicher 1940 (Christiane Kuller/Axel Drecoll) und die Ausbürgerung Biermanns 1976 (Stefan Wolle) - unterstreicht zugleich ihre Verschiedenartigkeit. Ob ein Missstand als solcher wahrgenommen und bekannt gemacht wird, ob er dann zur Entrüstung in der Öffentlichkeit oder einer Teilöffentlichkeit führt und ob die Skandalisierung schließlich das System stabilisiert oder seine Legitimation untergräbt - all dies hängt zumal in Diktaturen entscheidend von den konkreten Rahmenbedingungen ab.
Martin Sabrow (Hrsg.)
Skandal und Diktatur.
Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR
Wallstein Verlag, Göttingen 2004; 269 S., 28,- Euro