Walter Laqueurs anrührendes Portrait von Jerusalem
Jerusalem sah ich zum ersten Mal am 15. November 1938 zur Mittagszeit, und manchmal scheint es mir, als wäre es erst gestern gewesen." Walter Laqueur war gerade 17 Jahre alt, als er in Palästina eintraf. Auf "legalem" Weg hatte er Deutschland verlassen; seine Eltern und viele Verwandten, denen die Ausreise verwehrt blieb, kamen später in Konzentrationslagern um. Er erlebte die Gründung Israels und siedelte 1956 nach Europa, später in die USA über.
Laqueur leitete von 1964 bis 1991 das renommierte Institute of Contemporary History in London und ist seit Ende der 60er-Jahre Mitarbeiter des Center of Strategic and International Studies in Washington. Seine Kenntnisse der politischen und kulturellen Geschichte Europas, Amerikas und Russlands hat er durch zahllose Publikationen unter Beweis gestellt. Ebenso bekannt wurde er als Analytiker des Terrorismus wie als Historiker des Zionismus.
Kaum ein anderer Zeithistoriker dürfte heute auf insgesamt 65 Jahre intime Kenntnis von Jerusalem zurückschauen können. Und kaum ein anderer kennt diese Stadt aus so tiefer persönlicher Anschauung und vermag ihre politische, kulturelle wie religiöse Gegenwart und Zukunft so kundig zu analysieren wie er.
1938 erschien ihm Jerusalem grau, hässlich und abweisend. Er schlug sich als Landarbeiter, später als Zeitungskorrespondent durch und lernte viele Menschen kennen, die er in diesem Buch mit kräftigem Strich skizziert, Emigranten ebenso wie überzeugte Zionisten, politische Talente wie Golda Meir, Professoren und Gelehrte wie etwa Gershom Scholem. Laqueur porträtiert Architekten und Philanthropen, Träumer und Aktivisten, die heute keiner mehr kennt. Es sind gerade diese Schilderungen pittoresker, brillanter, erfolgreicher und scheiternder Personen der 40er-Jahre - Juden wie Araber - im noch britischen Palästina, dann Israel, die hier ihren Biographen finden. Dies macht das lesenswerte Buch zu weitaus mehr als einem Stadtporträt. Ihm gelingt es vielmehr, tradierte Mythen zurechtzurücken.
Eine Autobiografie ist es aber nicht. Dafür ist Laqueurs Grundhaltung zu nüchtern. Sentimentales findet man bei ihm nie, Privates nur am Rande. Seine Gedächtnisstützen sind nicht Tagebuchaufzeichnungen oder Briefe, nicht die Bibel oder Zeitungsarchive, sondern das Jerusalemer Telefonbuch von 1946 und das "Who's Who" von 1947. Jedes Kapitel nimmt seinen anschaulichen Ausgang bei einem persönlichen Spaziergang durch die Straßen eines Viertels. Er ist ein distanzierter Beobachter der Menschen und der Stadt, dem Symbol zweier Weltreligionen.
Gerade an der großen symbolischen Aufladung dieser Stadt wird sich, so der Autor, Jerusalems Zukunft entscheiden. Wird es wie so oft ein Stolperstein auf dem Weg zum Frieden sein? Derzeit wird Jerusalem zunehmend von Ultraorthodoxen dominiert - auch der derzeitige Bürgermeister Uri Lupolianski zählt dazu -, die Israel ebenso rigoros ablehnen wie den Zionismus; andererseits wird ihre Lebensform durch eben diesen Staat maßgeblich subventioniert. Der Laizist Laqueur spart nicht mit Kritik an dieser wie an anderen Entwicklungen, die in seinen Augen die Existenz Jerusalems gefährden, dieser Stadt, die ihm so am Herzen liegt.
Walter Laqueur
Jerusalem.
Jüdischer Traum und israelische Wirklichkeit.
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Seebohm.
Propyläen Verlag, Berlin 2004; 400 S., 24,- Euro