Zionistische Vision und palästinensische Realität
Die Unabhängigkeitserklärung stellte nicht nur eine Zäsur in der jüdischen Geschichte, sondern zugleich eine Weichenstellung für die Entwicklung der Nahostregion dar. Sie war das Resultat von Geschehnissen, die sich während der vorangegangenen Jahrzehnte auf dem europäischen Kontinent, in den internationalen Gegebenheiten und im Nahen Osten vollzogen hatten.
Die zionistische Vision, ein jüdisches Gemeinwesen im "Lande der Väter" zu schaffen, war eine Antwort, mit der jüdische Intellektuelle in Europa am Ausgang des 19. Jahrhunderts auf die Herausforderungen der Moderne, insbesondere auf Antisemitismus und Assimilationstrends, zu reagieren suchten. Zentrale Anliegen waren, das Judentum zu erhalten, die über den Erdball verstreuten Juden in einem eigenen Staat zusammenzuführen und jüdische Identität in der modernen Gesellschaft neu zu bestimmen. Theodor Herzl, der "Vater des politischen Zionismus", hatte 1896 in seinem Buch "Der Judenstaat" die Idee des jüdischen Nationalstaates in Palästina allseitig begründet. Ein Jahr nach Erscheinen des Manifests wurde in Basel die Zionistische Weltorganisation gegründet. Damit begann eine neue Phase jüdischen Emanzipationsstrebens und nationaler Selbstbesinnung.
Die jüdische Nationalbewegung verwandelte die tradierte Bindung an das "Heilige Land" in ein aktives beziehungsweise aktivierendes Element; sie revolutionierte - zögerlich zunächst - jüdisches Denken und Leben. Hunderttausende Juden, in ihren Heimatländern nicht selten diskriminiert und geächtet, während der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland und weiten Teilen Europas von der Auslöschung bedroht, fanden an der Levanteküste eine neue Heimat.
Die zionistische Einwanderung ließ den jüdischen Bevölkerungsanteil in Palästina schnell anwachsen. Hatten 1882 nur annähernd 24.000 zumeist streng gläubige Juden in der osmanischen Provinz, konzentriert auf die vier heiligen Städte des Judentums Jerusalem, Hebron, Tiberias und Safed, gelebt, so brachten die frühen zionistischen Zuwanderungswellen vorwiegend säkulare osteuropäische Immigranten ins Land. Die Neuankömmlinge legten in den vom Jüdischen Nationalfonds aufgekauften Ländereien landwirtschaftliche Siedlungen an oder ließen sich in den Städten, insbesondere der Mittelmeerküste, nieder. 1909 wurde der Grundstein für die heutige Metropole Tel Aviv gelegt. Die Einwanderer - bis 1931 bereits 175.000 - schufen jüdische Selbstverwaltungsorgane, einen eigenen Wirtschaftssektor, politische Parteien, Gewerkschaftsverbände und Verteidigungsorganisationen. Das modernisierte Hebräisch wurde zur Umgangssprache.
Während der 30er Jahre gelangten weitere 200.000 europäische Juden - darunter 70.000 aus dem deutschsprachigen Raum - an das östliche Mittelmeer. Letztere, die Jeckes, leisteten einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens sowie des Rechts- und Pressewesens.
Der jüdische Anspruch auf Palästina und das zionistische Siedlungswerk, seit Ende des Ersten Weltkriegs unter dem Schirm des britischen Völkerbundmandats, gerieten zunehmend in Widerspruch zu den Interessen der arabischen Bewohner des Landes wie den Intentionen der arabisch-palästinensischen Nationalbewegung. Deren Vertreter hatten die Befreiung von osmanischer Herrschaft begrüßt; sie klagten nunmehr von den Briten die versprochene Eigenstaatlichkeit ein. Arabische Aufstände in den Jahren 1920, 1921, 1929 und 1936-39 richteten sich nicht nur gegen die zionistischen Siedler, sondern verstärkt auch gegen die Mandatsbehörden. Sie wurden von britischer Polizei und Armee blutig niedergeschlagen. Aus Furcht vor weiterer Eskalation beschränkte Großbritannien ab 1939, trotz Kenntnis der Judenverfolgungen in Deutschland, die jüdische Einwanderung auf ein Minimum.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Weltöffentlichkeit von der Ermordung eines Drittels der europäischen Juden in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern beziehungsweise durch Sonderkommandos der deutschen Armee und deren Verbündete. Hunderte jüdische Gemeinden waren ausgelöscht worden. Überlebende irrten durch Europa und suchten eine neue Heimat; nicht wenige wandten sich Palästina zu. Die britische Mandatsmacht verweigerte weiterhin die Einwanderung. Internationales Aufsehen und Proteste erregte die Tragödie des Flüchtlingsschiffes "Exodus", dessen Insassen 1947 zwar Palästina erreicht hatten, durch britische Kriegsschiffe jedoch nach Europa eskortiert und schließlich nach Deutschland verbracht wurden.
Angesichts zehntausender, in "Displaced Person Camps" notdürftig untergebrachter jüdischer Überlebender der Shoah und unter Berücksichtigung der vehement artikulierten Unabhängigkeitsbestrebungen sowohl der arabischen als auch der jüdischen Nationalbewegung sahen sich die Vereinten Nationen veranlasst, der Palästinafrage besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Nach monatelanger Prüfung votierte die II. UN-Vollversammlung am 29. November 1947 mit Zweidrittelmehrheit für die Beendigung der Mandatsherrschaft Großbritanniens und für die Teilung des Landes. Auf dem rund 25.000 Quadratkilometer umfassenden Territorium mit einer Bevölkerung von 1,3 Millionen Arabern und 608.000 Juden sollten zwei Staaten - ein arabischer und ein jüdischer - entstehen; Jerusalem - von zentraler Bedeutung für Judentum, Christenheit und Islam - sollte internationalen Status erhalten. Der UN-Beschluss legte fest, die drei Teile Palästinas durch eine Wirtschaftsunion zu verbinden.
Gemäß der Resolution der Weltorganisation erfolgte am 14. Mai 1948 die Proklamation des jüdischen Staates. Die parallele Gründung des arabisch-palästinensischen Staates blieb aus, da die Arabische Liga den Teilungsplan strikt ablehnte. Während jüdische Menschen in den Straßen Tel Avivs jubelnd ihren Staat begrüßten, fanden in den arabischen Hauptstädten Protestdemonstrationen statt, in deren Umfeld Einrichtungen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der UdSSR demoliert wurden. Das Hohe Arabische Komitee, oberste Repräsentanz der palästinensischen Nationalbewegung, vergab letztlich die historische Chance, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bereits 1948 in Gestalt eines eigenen Staates zu verwirklichen.
Die unterschiedlichen Positionen der regionalen Mächte und die nur teilweise erfolgte Realisierung des UN-Beschlusses von November 1947 verliehen den sich zuspitzenden Nahostspannungen einen neuen Rahmen und neue Brisanz. In der Nacht vom 14. zum 15. Mai 1948 marschierten die Armeen Ägyptens, Transjordaniens, Syriens, Iraks und Libanons in Palästina ein mit dem Ziel, die Proklamation des jüdischen Staates rückgängig zu machen. Für Israel ging es um die nationale Existenz und um das Überleben seiner Bürger. Dank umfangreicher Waffenlieferungen aus der Tschechoslowakei sowie finanzieller Unterstützung aus den USA und anderen Ländern konnte die israelische Armee im Juli 1948 den Umklammerungsring sprengen und zur Gegenoffensive übergehen.
Der erste Nahostkrieg endete im Januar 1949 mit dem militärischen Sieg Israels. Durch Vermittlung der Vereinten Nationen kamen während der folgenden Monate Waffenstillstandsverträge mit Ägypten, Libanon, Jordanien und Syrien zustande. Die Waffenstillstandslinien vergrößerten das Territorium des jüdischen Staates von den im UN-Beschluss 1947 fixierten 14.100 Quadratkilometern auf 20.700 Quadratkilometer. Die Chancen für das arabisch-palästinensische Gemeinwesen waren durch die Inbesitznahme eines Teils der seitens der Vereinten Nationen dafür vorgesehenen Territorien durch Israel, die Eingliederung des Westjordanlandes und Ostjerusalems in das 1950 ausgerufene Haschemitische Königreich Jordanien sowie die Unterstellung des Gazastreifens unter ägyptische Verwaltung für einen langen Zeitraum zunichte gemacht.
Die Gründung des jüdischen Staates und der Ausgang des ersten israelisch-arabischen Krieges veränderten die politische Landschaft des Nahen Ostens. Eine schwere Hypothek bildet seither insbesondere das Problem der arabischen Palästinaflüchtlinge und seit dem Sechstagekrieg 1967 die israelische Besetzung und Besiedlung Ostjerusalems, des Westjordanlandes und des Gazastreifens. Die aktuellen Entwicklungen in und um Israel verweisen nachdrücklich darauf, dass eine einvernehmliche Regelung der Palästinenserfrage nicht nur für die betroffene Volksgruppe, sondern auch für den jüdischen Staat von existenzieller Bedeutung ist.
Angelika Timm lehrt Politikwissenschaft an der Bar-Ilan-Universität im israelischen Ramat Gan.