DDR und Israel: Ein Nichtverhältnis mit persönlichen Folgen
Gegenseitig haben wir uns auf einige Unterbrechungen in der langen Reihe von Verschweigungen aufmerksam gemacht. Da war der Sechs-Tage-Krieg. Im "Neuen Deutschland" hatten sich prominente Genossen als Juden zu Wort gemeldet. Ach, die auch, und der ... ? Ich weiß, wie zufrieden mich dieses merkwürdige Coming-Out stimmte, das seinerzeit nicht nur für mich völlig unerwartet kam. Politisch angepasster waren da die Bemerkungen über Israel, den Aggressor. Auf dem Gang der Rundfunkbaracke rief mir einmal ein Kollege zu, ich hätte den Protest nicht unterschrieben. Ich war zwar, was die politische Lage anging, gerade nicht auf dem Laufenden, schrie aber zurück, das würde ich auch nicht tun. Etwas später kam ein Chef des Wegs und entschuldigte sich. Von dieser vaterländischen Pflicht sei ich befreit. Eigentlich wollte ich provozieren, das Gegenteil trat ein. Warum? Israel war doch kein Thema. Mein Judentum erst recht nicht.
Ich gehörte zu den Emigrantenkindern. Unsere Eltern schienen mir massenhaft in Medien und Politik vertreten. Ernsthaft über Israel haben wir dennoch kaum gesprochen. Natürlich wurden altbekannte jüdische Witze weitergegeben, geschönte und hässliche Erinnerungen, antideutsche Sentiments. Aber das waren keine Informationen, nicht mehr als private und immer wieder kolportierte Anekdoten. Aus Israel kamen in Dresden bei einem Freund, der wiederum bei einer ehemaligen Spanienkämpferin und Mexikoemigrantin an Kindes statt lebte, Pakete mit klebrigen Plastikcontainern an. Der Inhalt wurde solange mit Knoblauch, Wasser und Zitrone vermischt, bis ein wohlschmeckender Brei entstand. "Trina!", sagte dazu stolz die ihn besuchende israelische Schwester des in Dresden lebenden Israelis mit DDR-Pass. Jüdischer erschien mir allerdings gehackte Leber.
Etwas mehr Israelkunde gab es für mich, als ich ab Anfang der 70er-Jahre zu den sonntäglichen Kulturveranstaltungen der Ostberliner Jüdischen Gemeinde ging. Manchmal kamen israelische Referenten über die Grenze aus Westberlin, hin und wieder plauderten Gemeindemitglieder und andere über ihre Reisen ins besondere Land. In den Anfangsjahren meines jüdischen Revivals, auf jeden Fall zu Pessach, saß ich neben der Schriftstellerin Berta Waterstradt, die im Berliner Widerstand überlebt hatte. Das Fest näherte sich mit dem alten traditionellen Hoffnungsspruch "Nächstes Jahr in Jerusalem" seinem Ende, als sie lauthals verkündete: "Ich fahre schon im Mai. Zu meiner Schwester". Dennoch war das irdische Israel auch in der Jüdischen Gemeinde kein Dauerthema. Es soll, sagte mir jemand vor einigen Wochen, eine Art Gentleman-Agreement gegeben haben, weshalb die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden es vermieden, sich öffentlich allzu scharf zur DDR-Nahostpolemik zu äußern. Seit den 70er-Jahren, da war ich schon ein aktives Mitglied, achtete jedoch nicht nur der Berliner Gemeindevorstand bereits misstrauisch auf feindselige öffentliche Töne in Richtung Israel. Wir protestierten das eine ums andere Mal und nicht nur, wenn der verbohrte Antizionismus seine antijüdischen Ressentiments erkennen ließ. Klärende Aussprachen mit Redakteuren und politischen Funktionsträgern folgten, dann kam wieder ein neues Politikum, was unsere Empörung aufs Neue anheizte. Aus Sicht der Macht (einige Machthabende hatten in den gleichen Gefängnissen und Lagern gelitten, manche auch als Juden) waren das reine Zufälle und Missgriffe.
Heute weiß ich, wie den Älteren der politische Antijudaismus der frühen 50er-Jahre in den Knochen steckte. Nein, über die 50er-Jahre und die Prozesse gegen Juden haben wir auch nicht gesprochen. Ihre Fragelust muss den Wissenderen im Halse steckengeblieben sein. So, wie keine Namen fielen. War Paul Merker Genosse oder zionistischer Verräter? Zwar war er kein Jude, aber dennoch seit Mexiko politischer Vordenker für jüdische Rechte. Wusste ich das schon damals? Er war schließlich der Exil-Freund von Freunden der Eltern. Sie werden darüber geredet haben, wenn ich nicht im Zimmer war. Die L.'s aber, die waren voller Zuversicht aus dem Exilland USA nach Prag gegangen und wurden (er war US-Bürger, sie deutsche Jüdin) als vermutete Zionisten in die Fabrik gezwungen. Da flohen sie in die DDR, bezogen ein kleines Haus und setzten ihre journalistische Arbeit fort.
Berta Waterstradt las in der Gemeinde ihre Geschichten vom israelischen Alltag. Das Heilige Land hatte also profane Seiten. Ein eingeschmuggelter Ephraim-Kischon-Band machte die Runde. In Berlin konnte man viel mehr erfahren, auch wenn im Westfernsehen Israel und Juden kaum präsent waren. Das muss den DDR-Ideologen entgegen gekommen sein. Dass mich keine Angst vor Israels Vernichtung umtrieb, kann ich mir heute nur aus meinem politischen Scheinoptimismus erklären. Die nationalen Befreiungsbewegungen waren neben sozialistischem Lager, kommunistischen wie anderen fortschrittlichen Bewegungen in der kapitalistischen Welt zum Bestandteil einer ideologischen Dreifaltigkeit avanciert. Alle Ströme flossen in Richtung Zukunft. Israel galt wie Westberlin als amerikanische Speerspitze im Fleisch des Guten. Nach sowjetischem Vorbild wurde arabischer Nationalismus als nachkoloniales Erbe umgedeutet.
1986 veranstaltete der Jüdische Weltkongress die Konferenz zu seinem 50. Jahrestag in Jerusalem. Die außenpolitischen Sterne standen gut. Erstmals sollte auch eine dreiköpfige DDR-Delegation des jüdischen DDR-Dachverbands nach Israel reisen. Damals dauerten Visa-Formalitäten wegen der staatlichen Nichtbeziehungen Monate, noch dazu wurden DDR-Anträge um der deutsch-deutschen Unverträglichkeiten willen in Wien bearbeitet. Als DDR-USA-Doppelstaatsbürgerin brauchte ich kein Visum und wurde kurzfristig zum Ersatz für jemand anderen mitgenommen. "Hier ist's ja wie in Bulgarien", murmelte Delegationsmitglied Dr. K, als wir den Flugplatz verließen und in rasendem Tempo gen Jerusalem gefahren wurden. Ich hatte Israel im Westen vermutet. Angekommen waren wir im Orient. Bertas Schwester reagierte empört, weil ich das schmale Warenangebot in der Ben Jehuda Straße enttäuschend fand. Ich wollte mehr und anderes sehen, hören, riechen, schmecken. Die Intifada war noch nicht ausgebrochen. Juden hießen Israelis. Aus historischer Pflicht sei unsere Zukunft hier, sagten die einen. Andere debattierten mit mir, ob eine Berliner Mauer das Land stabilisieren würde. Der Kongress gab Solidaritätserklärungen ab, man berichtete aus jüdischen Regionen der Welt und hörte sich kaum zu. Zurück in Berlin schrieb ich einen glühend romantischen Artikel, den der Chef vom "Sonntag", ehemals jüdischer England-Emigrant, ablehnte, während die "Weltbühne" ihn druckte, wofür deren Chef einen politischen Rüffel erhielt und ich Berge begeisterter Leserbriefe. Im jüdischen Staat war es wie überall: arme, reiche, kluge und dumme, sogar reaktionäre Juden gab es, und die gespaltene Kommunistische Partei, worüber die dort und wir hier auch nicht gesprochen haben. Jetzt wollte ich Hebräisch lernen und Israel verstehen. Beides blieb im Ansatz stecken. Ich las Herzl - die Jüdische Gemeinde führte bereits ihre eigene öffentliche Bibliothek. Israel hatte ein Gesicht und einen Körper bekommen. Mir erschien nun nicht mehr ganz so glaubwürdig, dass die DDR aus Rück-sicht auf den äußeren Handel mit Israels Feinden zu kooperieren habe, gleichzeitig aber dem jüdischen Leben Respekt zolle, und es auf die Palästinenser-Frage nur die enge parteiliche Antwort geben sollte. Manipulation ist nur solange erfolgreich, wie sie nicht bemerkt wird.
Dass weder Deutschland-Ost noch Deutschland- West den Massenmord und Israel zusammendenken wollten, wäre die richtige Erkenntnis gewesen. Wieso die systematische Verkennung deutscher Geschichte eine blinde Polit-Projektion auf Israel begünstigte, ist mir heute offenkundig. Mitten in Berlin, umgeben von Reisekadern und Emigranten, hätte ich erheblich früher manches über Israel wissen können, doch mein Pionier- und späteres FDJ-Herz schlug für die nationalen Befreiungsbewegungen, für Algerien und Kuba, bangte um Schwarzafrika. Vietnam kämpfte. Viele Genossen Juden solidarisierten sich mit den Palästinensern. Auch mein politischer Sachverstand war ideologisch vereinseitigt, und Israel passte nicht in das Weltbild. Dabei hatten meine Eltern 1937 im Mandatsgebiet Palästina geheiratet, meine Großmutter Klagebriefe über die dortigen Lebensumstände zu uns nach New York geschrieben. Doch die familiäre Palästinazeit wurde in der DDR zum Geheimnis. Wirkten das neue Israel und das alte Judentum politisch und psychologisch wie eine Bedrohung? Um 1958 waren meine französischen Cousinen nach Israel ausgewandert. Sie hatten ihre Vornamen hebräisiert, ein Jahr später waren sie wieder zu Hause. Zufällig erfuhr ich davon, grün vor Neid. Ich pubertierte heftig und wollte ins Proletariat aufsteigen. Israel konnte mir gestohlen bleiben.
Im Sommer des letzten Lebensjahres der DDR war ich sechs Wochen in Jerusalem, um über Stadt und Leute zu schreiben. Neue Zeiten deuteten sich an, ein Buch musste her. Der DDR-Verlag hatte keine Devisen, es gab jüdische Freunde von jüdischen Freunden, die im jüdischen Jerusalem Sofas hatten. Ich streifte durch die nicht mehr geteilte Stadt, machte immer neue jüdische Bekanntschaften, sog Witze und sarkastische Bemerkungen auf, wurde vor Palästinensern und Ostjerusalem gewarnt. Man fragte nach einem möglichen Ende der DDR. Nein, das war lachhaft. Nein, ich glaubte an kein einheitliches Deutschland. Aber, antwortete ich vergnügt auf einer improvisierten Pressekonferenz, ist die DDR weg, komme ich her. Später hat man mich an diese Bemerkung erinnert.
Am Ende der DDR war mir Jerusalem ans Herz gewachsen. Ich liebte die strengen Frommen, die jüdischen Altdeutschen ohne, die früheren New Yorker mit ihrer eigener Art von Religion. Ich gefiel mir unter der brütenden Sonne, in übervollen Bussen, in Wohnungen, deren Möbel einst in Frankfurt oder Breslau gestanden hatten. Es war wie ein Wunder, von jüdischen Verkäuferinnen schnippisch behandelt, von jüdischen Taxifahrern unfreundlich aufgelesen, von jüdischen Bettlern verzweifelt angesehen zu werden. Ich verteidigte mein Recht auf meinen Traum von einer nazifrei zu verbessernden DDR.
Im Nachhinein ist mir klar, dass ich 40 Jahre lang an Deutschland nicht gedacht und die Vision Israel nicht gesucht habe. In Wirklichkeit ist Israel kein Märchen aus dem Morgenland und die DDR vor dem Abendleuchten untergegangen. Wer hätte das gedacht?
Irene Runge ist Vorsitzende des jüdischen Kulturvereins in Berlin.