Deutsche Juden, die nicht nach Israel gingen, wurden von ihren Glaubensbrüdern verachtet
Nicht die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel vor 40 Jahren, sondern die Gründung des jüdischen Staates im Mai 1948 war das revolutionäre Ereignis für die Juden in aller Welt. Sieht man von denen in Israel ab, so waren die Juden in Deutschland am meisten von der Etablierung des Judenstaates bewegt. Der Grund liegt auf der Hand: Die hiesigen Juden lebten auf dem Boden des ehemaligen Nazi-Reiches. Sie waren zur Vernichtung vorgesehen gewesen. Nur durch Zufall davongekommen.
Nach dem Ende des Nazi-Regimes dachten nur sehr wenige Juden in Deutschland daran, im Lande ihrer ehemaligen Häscher dauerhaft zu verbleiben. Das Gros plante, "Naziland" so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Allein die Weigerung fast aller Staaten, Juden, selbst Überlebenden der Todeslager, die Einwanderung zu gestatten, hinderte die in Deutschland lebenden Juden am Verlassen des Landes. Am schmerzlichsten war ihnen, dass sie nicht nach Zion emigrieren durften, der altneuen Heimat des jüdischen Volkes. Denn die Briten, die das Mandat in Palästina ausübten, ließen aus Furcht vor arabischen Repressionen keine Juden nach Zion einwandern.
Doch nun, am 14. Mai 1948, fast genau drei Jahre nach dem Untergang des Hitler-Reiches, war der lang-ersehnte Judenstaat Wirklichkeit geworden. Erstmals seit zwei Jahrtausenden konnten die Israeliten in ihren eigenen Staat einwandern und dort dank des israelischen Rückkehrgesetzes, das jedem Juden der Welt die Staatsbürgerschaft anbot, gleichberechtigte Bürger Zions sein.
Dies ließ die Juden in aller Welt jubeln und handeln. Die nachhaltigsten Konsequenzen wurden in Deutschland gezogen. Von den rund 250.000 ehemaligen Displaced Persons, wie man die KZ-Überlebenden und andere geflüchtete Juden nannte, emigrierte binnen Jahresfrist die überwältigende Mehrheit nach Israel. In Deutschland zurück blieben gerade mal 25.000 Juden. Die meisten von ihnen waren körperlich hinfällig oder psychisch gebrochen. Ungeachtet dessen wurden die Juden Deutschlands von ihren Glaubensbrüdern in der ganzen Welt verachtet und als ehrlos abgestempelt. Denn sie lebten weiter im Land der Täter. Die internationalen jüdischen Vereinigungen, insbesondere die Zionistische Weltorganisation, und die israelische Regierung übten massiven Druck aus, die in Deutschland verbliebenen Juden zur Auswanderung nach Israel zu nötigen.
Aus dem einen oder anderen persönlichen Grund, beispielsweise, weil man in Deutschland nichtjüdische Partner geheiratet, hier seine Existenz begründet hatte, einem die Sprache und Kultur Deutschlands vertraut waren, blieb die jüdische Gemeinschaft dennoch hierzulande. Mehr noch: 1950 wurde ein Dachverband der jüdischen Gemeinden ins Leben gerufen: Der "Zentralrat der Juden in Deutschland". Die Namensgebung war ein sicherer Hinweis auf ein Provisorium. Man hatte aufgehört, Deutscher zu sein. Rabbiner Leo Baeck, einstiger Mentor des deutschen Judentums, war nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Theresienstadt nach England emigriert. Dort erklärte er die tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums für beendet.
Die Juden Deutschlands blieben dennoch, wo sie waren. Mit den Jahren gewöhnten sie sich zunehmend an eine Existenz im Land der ehemaligen Nazis. Zion blieb weiterhin das verheißene Land der hiesigen Juden. Wenn sie nicht nach Israel einwanderten, so wollten sie dort wenigstens begraben werden. Derweil erzogen sie ihre Kinder mit ungebrochener Liebe für das Land der Vorväter.
Bis 1965 galt für die deutsch-israelischen Beziehungen die harte Gleichung: Geld und Waffen gegen ein Mindestmaß an Reputation. Nun, nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, waren Deutschlands Juden voller Genugtuung. Sie fühlten sich als heimliche Botschafter Zions ebenfalls anerkannt. Die Genugtuung schlug in unbändigen Stolz um, als zwei Jahre später, im Juni 1967, Zions Streitmacht die Armeen der arabischen Staaten innerhalb von sechs Tagen demütigend besiegte. Dies war mehr als ein gewöhnlicher Sieg des Militärs eines Staates, mit dem man sympathisierte. Der Triumph des Sechstagekrieges 1967 war vielmehr der mentale Sieg über eine fortgesetzte Demütigung durch die Antisemiten in aller Welt, die ihren mörderischen Höhepunkt in Auschwitz gefunden hatte.
Im Sommer 1967 trugen Deutschlands Juden ihren Kopf besonders hoch. Verständlich, denn die Deutschen waren voller Sympathie für die Heere Zions. Die ehemaligen Hitler-Wähler und ihre Kinder hatte eine traumatische Furcht gepackt. Entsetzt begannen sie zu begreifen, dass durch ihre Hand fast das gesamte europäische Judentum ausgerottet worden war. Nun versuchte man, "wieder gut zu machen". Zumindest materiell. Als der Ägypter Gamal Abdel Nasser unter dem Jubel der gesamten arabischen Welt die Zerstörung Israels ankündigte, erkannten die Deutschen wie in einem Déjà-vu den vergangenen eigenen Mordversuch. Dies wollte man verhindern. Mit Sympathiekundgebungen und nicht zuletzt durch die Lieferung von Gasmasken. Auf Verlangen Jerusalems. Die Israelis wussten, wie sie die Deutschen an ihrem Mords-Gewissen packen konnten.
Wie lange kann ein Jude jubeln und im Siegesrausch schwelgen? Bis ihm der vermeintliche oder real existierende Antisemit die Laune verdirbt, oder ihn die Realität einholt. Bald entdeckten immer mehr Deutsche ihre Sympathien für die von den Israelis unterdrückten und unter einem Besatzungsregime lebenden Palästinenser. Das war das Ende des Pro-Israel-Hypes der deutschen Öffentlichkeit. Wer sich fortan allzu offen als Israels Botschafter gebärdete, identifizierte sich damit auch mit Israels Besatzungspolitik.
Hinzu kam, dass sich der Zeitgeist Israel immer mehr entgegenstellte. Der Umbruch von 1968 richtete sich nicht nur gegen den "Muff von 1.000 Jahren unter den Talaren" und die nazistische Elterngeneration. Im Mittelpunkt des Kampfes stand der Imperialismus. Nicht nur in Vietnam, sondern auch in Palästina. Israel war unglücklicherweise auf der Seite der "Bösen". Der Imperialisten, der Besetzer, der Ausbeuter. Im fernen Vietnam, aber auch daheim im Frankfurter Westend.
Unter den Hausbesetzern gab es auch Juden. Rainer Werner Fassbinder und Gerhard Zwerenz nahmen dies zum Anlass, das Drama "Der Müll, die Stadt und der Tod" zu verfassen. Es sollte ein Lehrstück sein gegen den Antisemitismus. Frei nach Shakespeares "Kaufmann von Venedig". Wie der Engländer, so wollte 450 Jahre später auch Fassbinder erklären, dass die Juden Menschen wie alle anderen sind. Dass sie bluten, wenn sie gestochen werden, sie hassen und auf Rache sinnen, wenn man sie demütigt und misshandelt. Doch Fassbinders künstlerische Suche nach Verständnis erreichte nicht die von Antisemitenangst und Nazigräuel traumatisierten Seelen der Juden Deutschlands und ihrer philosemitischen Freunde. So zankte man sich um den vermeintlichen Antisemiten Fassbinder und vergaß, nach den Ursachen der Judenfeindschaft zu fragen.
Deutschlands Juden verharrten derweil im Ghetto ihrer Furcht. Sie trauten sich nicht, ihrem Hass gegen die Antisemiten Ausdruck zu geben. "Juden" haben, das wissen wir seit Gotthold Ephraim Lessing, gefälligst weise, verstehend und verzeihend zu sein. Gebärdet sich ein Hebräer als Shylock, dann verliert er seine letzten Freunde. Die Philosemiten und jene, die die Juden zuvorderst als Opfer begreifen. Doch was ist mit den jüdischen Gefühlen? Was empfinden die Juden im Kreuzfeuer von antisemitischem Hass und philosemitischer Aggressionskastration?
Offenbar interessierte man sich in Deutschland zunächst wenig für die Gefühle der "jüdischen Mitbürger". Zu sehr war man von den eigenen Gewissensnöten geplagt. So wollte 40 Jahre lang niemandem auffallen, dass es keine jüdische Gegenwartsliteratur in Deutschland gab. Nicht einmal dem jüdischstämmigen Literaturpapst Marcel Reich Ranicki. Diesem am allerwenigsten, denn damit hätte er den status quo, die relative Ruhe, die Toleranz gegenüber den hiesigen Juden lediglich gestört.
Gegenwartsliteratur ist unabdingbar. Sie liefert ein unvermitteltes Abbild der menschlichen Empfindung. Doch wer konnte erwarten, dass die Juden aus dem Kokon ihrer Ängste und ihrer Aversionen ausbrechen würden und sich selbst entdeckten? Gegenüber bösartigen Antisemiten und nervösen Freunden von eigenen Gnaden?
1988 veröffentlichte ich meinen Roman "Rubinsteins Versteigerung" im Selbstverlag. Kein deutscher Verleger fand den Mut, das aggressive Selbstzeugnis eines jüdischen Abiturienten im Deutschland der 60er Jahre - oszillierend zwischen eigener Ängstlichkeit, sexuellen Ambitionen und Antisemitenhass - zu veröffentlichen. Die Reaktion in den jüdischen Gemeinden war verheerend. Vor allem ältere Juden befürchteten, das harmlose Selbstzeugnis würde den Antisemiten neue Nahrung geben. Die "Allgemeine Wochenzeitung der Juden" wähnte "Nestbeschmutzung" am Werk, ein Terminus, den einst die Nazipresse benutzt hatte...
Wider Erwarten aber fand das Buch gerade bei Nichtjuden und wenigen jüdischen Intellektuellen ein positives Echo. Man war froh zu erfahren, was die Juden heute in Deutschland umtreibt. Der Erfolg machte jüngeren jüdischen Autoren und nichtjüdischen Verlagen Mut. Die Deutschen sind süchtig nach jüdischen Themen. Ihr Phantomschmerz bricht durch. Sie beginnen zu begreifen, dass die Juden mehr sind als Opfer. Sie sind Teil der deutschen Gesellschaft, Kultur und Geschichte. Wie man mit ihnen umspringt, wie man sie "behandelt", so geht man mit sich selbst um.
Mittlerweile getraut man sich sogar, über Juden zu lachen, wie zuletzt in der Filmschmonzette "Alles auf Zucker". Der Streifen, Romane, ja selbst menschliche Verfehlungen prominenter Juden zeugen von der beginnenden deutsch-jüdischen Normalität. Das macht Mut. Irgendwann werden die Israeliten so weit sein, nicht länger in der Ecke der "Juden in Deutschland" zu verharren und sich auf den Weg ins Herz der deutschen Gesellschaft zu begeben. Hoffentlich ist es offen.
Der Schriftsteller Rafael Seligmann lebt in Berlin.