Die zehn Beitrittsländer ein Jahr nach dem Beitritt zur Europäischen Union
Richtig gesprächig ist auf Anhieb niemand im nordböhmischen Ústí, wenn man ihn nach Fort- oder Rückschritten seit dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union fragt. Auch Oberbürgermeister Petr Gandalovic sieht den Beitritt nicht als die große Wende an: "Man kann nicht sagen, dass wir am 1. Mai 2004 neu geboren wurden. Viele Veränderungen haben schon lange vor dem Beitritt begonnen, andere werden wir noch durchlaufen." Der 40-jährige ist seit November 2002 Oberbürgermeister des Kreises Ustí und konnte den Wandel der Stadt von seinem Büro in der zentral gelegenen Stadtbehörde aus gut beobachten: Ústí nad Labem, einst Aussig an der Elbe, entwickelte sich im 19. Jahrhundert durch Braunkohle- und Chemieindustrie zum Industrie- und Handelszentrum Nordböhmens. Die heutigen Probleme der 95.000 Einwohner zählenden Stadt rühren aus der Vergangenheit. "Durch die Schließung der Braunkohlegruben und den Umbau der Schwerindustrie haben wir hier in Ústí viele Arbeitsplätze verloren," sagt Petr Gandalovic. Die Arbeitslosenquote liegt bei 13 Prozent - vier Prozent über dem Landesdurchschnitt. Die Region bemüht sich daher um Investoren, die neue Arbeitsplätze schaffen. Einige ausländische Branchen, die wegen der niedrigen Lohnkosten nach Tschechien gekommen waren, sind inzwischen schon weiter nach Osten gezogen - dort ist es noch billiger. Der EU-Beitritt hat auf administrativer Ebene viele Dinge vereinfacht und wirtschaftlich einiges in Gang gebracht. Auch Gandalovic gibt zu: "Es stimmt, dass viele Investoren gerade im Zusammenhang mit dem Beitritt in unsere Region gekommen sind und Arbeitsplätze geschaffen haben." Neben den Investoren bringen verschiedene EU-Projekte Bewegung in die Region. Zum Beispiel das transnationale Projekt ENLARGE-NET zwischen der Tschechischen Republik, Deutschland und Polen. "Es soll die drei Länder vernetzen, damit sich die Nachbarn besser kennenlernen", erläutert Oberbürgermeister Gandalovic. ENLARGE-NET fördert Seminare, den Austausch von Angestellten durch Praktika sowie die wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Die Europäische Zusammenarbeit bekommt in der Innenstadt von Usti ein Gesicht: An Baustellen hängen Schilder mit der Europäischen Flagge und dem Hinweis: ‚Dieses Projekt entsteht mit finanzieller Hilfe der Europäischen Union.' Im Kreis Ústí bemühen sich mittlerweile viele Gemeinden, Städte oder Unternehmen um Fördermittel aus Brüssel. Anlaufstelle für sie ist die "Agentur für Regionalentwicklung der Euroregion Elbe," kurz ARREL. Petr Beneš leitet das Büro in Ústí und informiert über die Möglichkeiten, Fördermittel zu beantragen. Antragsteller sind auf seine Hilfe angewiesen, denn es ist nicht einfach, die Formulare der Europäischen Union auszufüllen. "Man braucht viel Energie, um das Projekt so aufzuschreiben, dass es auch Chancen hat, sich durchzusetzen. Aber wir haben durch die vorhergehenden Projekte eine gewisse Erfahrung", sagt Petr Beneš. Kooperationspartner von ARREL ist das Regionalbüro von CzechInvest, der Agentur für Wirtschafts- und Investitionsförderung des tschechischen Industrie- und Handelsministeriums. Auch sie verzeichnet immer mehr Antragsteller. Ústís Projektmanager Jan Hanuš berichtet, dass das Büro in den letzten 14 Tagen rund 50 Anträge erhalten hat. "Dabei sind die Mittel in dieser Programmperiode noch gar nicht so bedeutend. Ab der nächsten, ab 2007 werden sie viel höher sein", hofft Hanuš. Ihm mißfällt, wie die EU ihre Förderregionen auswählt: "Einige Programme, die sehr reichlich mit Fördermitteln aus dem Strukturfond ausgestattet sind, haben weniger Interessenten als andere, in denen es viele Bewerber und wenig Geld gibt", sagt er.
Ein Jahr nach dem EU-Beitritt haben sich in der Tschechischen Republik viele Wogen geglättet: Horrorszenarien über einen Anstieg der Inflation und den Rückgang des Lebensstandards haben sich nicht erfüllt. Auch in punkto Europamüdigkeit nähern sich viele Tschechen dem europäischen Durchschnitt an: Lag die Beteiligung beim Referendum über einen EU-Beitritt im Juni 2003 noch bei 55 Prozent - 77 Prozent der Wähler stimmten damals für den Beitritt - gingen bei der Europawahl 2004 nur noch 28 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Klare Wahlsieger waren die europaskeptischen Parteien. Der Vorwurf an die Politiker: Ihr klärt uns nicht darüber auf, was in Brüssel passiert und was unsere 24 Abgeordneten dort eigentlich für uns erreichen können. Die niedrige Wahlbeteiligung und das schlechte Ergebnis für die Regierungsparteien waren ein Schlag für alle, die sich für die Aufnahme der Tschechischen Republik in die EU stark gemacht hatten. Der Rücktritt des damaligen Premierminsters Vladimír Špidla war die Folge. Er ist heute EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit.
Offen gegenüber Europa sind vor allem die jungen Leute, Studentinnen wie Jana Vanová. Sie freut sich, dass sie jetzt von Austauschprogrammen wie "Erasmus" profitieren kann. Die 22-jährige Germanistikstudentin findet, dass Brüssel heute im Land präsenter ist als noch vor einem Jahr. Dennoch gäbe es gerade im Kleinen noch Probleme. Ein Beispiel: die Internetseiten der EU. "Es gibt zwar tschechische Seiten, aber wenn man etwas ganz konkret über die Gesetzgebung wissen will, findet man meist nur englische Seiten. Das ist ein großer Fehler."