Hiroshima läutete das atomare Zeitalter ein - seit 15 Jahren ist es nun auch in Deutschland erlaubt, Atomwaffen zu entwickeln
Vor 60 Jahren gab es Sieg, Niederlage, Befreiung, Tote, unermessliches Leid, und bis zur letzten Minute vor Eintreffen der Alliierten arbeiteten deutsche Wissenschaftler und Ingenieure an den "Wunderwaffen". Insbesondere die Arbeiten an der deutschen Atombombe und die Mitarbeit deutscher Wissenschaftler an den amerikanischen und russischen Atombomben haben zu so schrecklichen Entwicklungen weltweit geführt, dass es gerechtfertigt scheint, an einige dieser Entwicklungen zu erinnern und zu fragen, wie wir heute zu Atomwaffen stehen.
Die Aufregung über die Schrecken der Atomwaffen und den drohenden Atomkrieg ist mit der Zeit mehr und mehr zurückgegangen. Die militärisch sinnlosen Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki sind lange her, der Kalte Krieg ging glücklicherweise zu Ende, ohne dass es zu einem Atomkrieg kam.
Wie ist die globale Situation heute bezüglich der gesundheitlichen Auswirkungen der atmosphärischen Atomwaffentests in den 60er-Jahren? Das konservative "Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkungen Atomarer Strahlung" (UNSCEAR) hat einen Schätzwert für die Kollektivdosis veröffentlicht, über den es sich nachzudenken lohnt. In dem Begriff Kollektivdosis wird die Größe einer betroffenen Population verbunden mit der Strahlenbelastung, die die einzelnen Menschen in dieser Population abbekommen haben. Damit kann man in gewissen Grenzen die Kollektivdosis als Maß für die Strahlenschäden einer Population ansehen. UNSCEAR gibt als Dosis den Wert von 20 Millionen Personen-Sievert an. An anderer Stelle findet man bei UNSCEAR Angaben zum Risikofaktor - wie viele Menschen sterben in einer Population, wenn diese mit einem Sievert bestrahlt wurde - der Wert lautet elf Prozent pro Sievert. Damit kann man ausrechnen, dass weltweit allein aufgrund der atmosphärischen Atomwaffentests etwa 2.200.000 Menschen an Krebs gestorben sind. Rechnet man die Opfer des Uranbergbaus, der Arbeit in den Atomfabriken dazu und berücksichtigt, dass die Zahl der Krebserkrankungen noch deutlich höher ausfällt als die der Krebstoten, so kommt man leicht in einen zweistelligen Millionenbereich für die Opfer der Atomwaffentests.
In Deutschland gab es über Jahre eine tödliche Zusammenballung amerikanischer und russischer Atomwaffen. Noch 1989 und 1990 wurde in Manövern Ost wie West der Einsatz von Atomwaffen ernsthaft durchgespielt. Kurz vor der Wiedervereinigung sind alle russischen Atomwaffen aus der DDR abgezogen worden, in der BRD verblieb eine gewisse Anzahl amerikanischer Atombomben an den Standorten Büchel und Ramstein. Sie werden von deutschen Soldaten gepflegt und im Ernstfall von deutschen Piloten und deutschen Tornados ins Ziel geflogen. Das geschieht mit dem Etikett "nukleare Teilhabe" im Rahmen der NATO, einer Gewohnheit, die durchaus nicht zwingend mit der Mitgliedschaft im Bündnis verknüpft ist. Es gibt NATO-Staaten, die die bei ihnen stationierten amerikanischen Atombomben nach Hause schickten - Deutschland tat das bisher nicht und verletzt damit wie die USA den Atomwaffensperrvertrag. Deutsche Richter übersehen den Bruch dieses Vertrages, halten es aber für erforderlich, Bürger, die auf diesen Umstand mit Mitteln des zivilen Ungehorsams aufmerksam machen, ins Gefängnis zu stecken.
Im Bereich der Atomwaffenentwicklung gibt es intensive Zusammenarbeit großer deutscher Firmen mit den Atomwaffenschmieden in den USA und in Frankreich. Ein wesentliches Gebiet ist das der Hochleistungslaser. Es sind Firmen wie GSI Darmstadt (PHELIX-Projekt), das Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie und eine Tochter der deutschen Firma Schott in den USA. Sie tragen mit ihren sehr speziellen Lasern zur Entwicklung von Atomwaffen im Labor - ohne Atomwaffentestgebiete - bei.
Es sei an das Votum des Internationalen Gerichtshofes von 1996 erinnert, "dass die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen generell im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere den Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts stehen würde". Die UN-Generalversammlung hat sich am 10. Dezember 1996 klar hinter das Votum des IGH gestellt - gegen die Stimmen der Atommächte USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und - Deutschlands. Rot-Grün denkt nicht darüber nach, diese deutsche Haltung zu korrigieren.
Abschließend sei an die Änderung im deutschen Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) von 1990 erinnert. Bis dahin war für Deutschland die Befassung mit A-, B- und C-Waffen tabu. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung wurde im KWKG der Abschnitt zu Atomwaffen verändert: seit 15 Jahren ist es nun in Deutschland erlaubt, Atomwaffen zu entwickeln, herzustellen, mit ihnen Handel zu treiben. Politiker, Friedensforscher und Journalisten schweigen zu dieser skandalösen Gesetzesänderung. Es ist beunruhigend, womit sich deutsche Politiker und Miltärs stattdessen befassen: Auf der 16. Sitzung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates 1996 entstand die "Nürnberger Erklärung". Dort ist zu lesen: "Die unabhängigen Nuklearstreitkräfte des Vereinigten Königreiches und Frankreichs, die eine ihnen eigene Abschreckungsfunktion erfüllen, tragen zur globalen Abschreckung und Sicherheit der Verbündeten bei. Unsere beiden Länder sind bereit, einen Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung im Kontext der Europäischen Verteidigungspolitik aufzunehmen."
1999 trafen sich Vertreter des Bundeskanzleramtes und der Bundeswehr-Führungsakademie zu einem Seminar der Bundesakademie für Sicherheitspolitik über "Deutsche Interessenpolitik im 21. Jahrhundert". Dort wurde festgestellt, dass Deutschland demografisch und wirtschaftlich die stärkste Macht in Europa sei. "Der besondere Beitrag Frankreichs und Großbritanniens zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegt bei ihren Nuklearstreitkräften und ihrer Interventionsfähigkeit. Ergänzend sollte Deutschland seine konventionellen Streitkräfte an die neuen Herausforderungen in ihrer ganzen Bandbreite anpassen. Auf lange Sicht sollte über vergemeinschaftete europäische Nuklearstreitkräfte für erhöhte Sicherheit nachgedacht werden."
Im Frühjahr 2003 entwarf das Centrum für angewandte Politikforschung das Szenarium einer "Supermacht Europa". Ziel war "Machtparität mit den USA", die dem "objektiven Weltmachtpotential" Europas gerecht wird. Es heißt dort: "Die Etablierung einer Sicherheits- und Verteidigungsunion und vor allem der Aufbau der Vereinten Europäischen Strategischen Streitkräfte, die sich unter einem gemeinsamen europäischen Oberkommando des Atomwaffenpotentials Frankreichs und Großbritanniens bedienen können, verändern die internationale Rolle der EU."
Ebenfalls Anfang 2003 entstand im Führungsstab der Bundeswehr eine Denkschrift, die darauf abzielt, die Miltärarsenale der EU-Mitgliedstaaten der Verfügungsgewalt einer künftigen EU-Regierung zu unterwerfen und damit auch für Berliner Ambitionen nutzbar zu machen. Im Forderungskatalog findet sich der Zugriff auf französische und englische Atomwaffen.
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik hat mit einem französischen Partnerinstitut in einem Strategiepapier konkrete Vorschläge für den gemeinsamen Einsatz von Atomwaffen erarbeitet. Die Pläne in dieser Richtung stammen aus der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie ist der einflussreichste "think tank" für die gegenwärtige Berliner Außenpolitik. "In politisch verantwortlichen Kreisen" werde Deutschland gegenüber bereits mehr oder weniger offiziell der Wunsch geäußert, in eine nukleare Debatte einzutreten. Berlin sei in naher Zukunft gezwungen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie das französische Atomwaffenpotential in den europäischen Rahmen einzuordnen sei. Sie testet ab, wie die Mitbestimmung Berlins über die französischen Atomwaffen aussehen könnte. Die Stiftung denkt darüber nach, wie man mit Widerstand gegen eine Deutsch-Französische-Europäische Atommacht fertigwerden könnte. Gefürchtet werden die USA, die eine von der NATO unabhängige Europäische Atomstreitmacht nicht gerne sähen.
Im Frühjahr 2005 erschien das Buch "Hitlers Bombe" des Historikers Rainer Karlsch. Er weist durch teilweise bisher unbekannte Quellen nach, dass die Atombombe der Nazis viel wirklicher war, als das bisher für möglich gehalten wurde. Wenig bekannte Physiker haben entscheidende Ergebnisse erzielt - bis hin zu einem Kernwaffentest im April 1945 auf dem Truppenübungsplatz in Ohrdruf unter SS-Regie mit hunderten ermordeten Häftlingen.
Es macht nachdenklich, wie stark nach 60 Jahren die instinktive Abwehr solch unbequemer Forschungsergebnisse durch Medien und Fachkollegen ist.
Dr. Sebastian Pflugbeil ist Präsident der Gesellschaft
für Strahlenschutz.