Die Ursprünge der Europäischen Gemeinschaft
Das Foto ist ein geschichtliches Dokument von Rang und ziert viele Bücher wie Infobroschüren. Das Ereignis, das von der Kamera festgehalten wird, hat legendären Charakter: Am 9. Mai 1950 steht der französische Außenminister Robert Schuman im prachtvollen Uhrensaal seines Hauses und verkündet unter Kronleuchtern vor interessiert lauschenden Zuhörern seinen Plan zur Gründung der Montanunion. Dieser Moment gilt als Stunde Null, die "Schuman-Erklärung" als Geburtsurkunde der jetzigen EU, der Europäischen Union. Das Bild hat freilich einen Schönheitsfehler: Es ist nicht wirklich echt. An jenem 9. Mai, der mittlerweile als "Europatag" begangen wird, schreiben zwar einige Journalisten die Worte des Ressortchefs mit, doch es sind keine Fotografen erschienen: Die Pariser Presse hat die Bedeutung dieses Auftritts Schumans zunächst nicht erfasst. Als sich dessen historische Tragweite herausstellt, wird die Szene einige Wochen später für Bildjournalisten kurzerhand nachgestellt. Mit den Tricks der Mediengesellschaft wird nicht erst heute gearbeitet.
Klaus Löffler erzählt diese Story mit einem gewissen Vergnügen. Für den Leiter der Vertretung des Europäischen Parlaments in Berlin markiert der 9. Mai 1950 im Kern den Start der EU. Indes räumt Löffler ein: "Die Frage nach dem Gründungsdatum ist nicht einfach zu beantworten". Schließlich ist eine Rede kein formeller Akt. Erblickt das vereinte Europa 1951 mit der Unterzeichnung des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) das Licht der Welt, die dann 1952 aus der Taufe gehoben wird? Oder tritt das neue Europa 1957 mit den Römischen Verträgen über die 1958 vollzogene Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf die geschichtliche Bühne?
Das "wahre" Geburtsdatum der EU dürfte Historikern noch lange Diskussionsstoff liefern. Jedenfalls sind die Schuman-Erklärung und die EGKS keineVorläufer der EWG. Löffler: "Bereits in der Rede vom 9. Mai 1950 und in der Montanunion sind die Prinzipien unserer EU und deren Grundstrukturen verankert."
Die EU ist kein Staat, kein Staatenbund, kein Bundesstaat, keine Föderation à la USA, keine internationale Organisation wie die UNO oder der Europarat. Brüssel steht für ein als "Gemeinschaft" oder "Union" firmierendes Konstrukt mit inzwischen 25 Mitgliedsnationen, und diese EU kann man als eine Art Vertragszustand bezeichnen, der permanent verändert und weiterentwickelt wird: Unabhängige, souveräne Staaten bündeln in wachsendem Maße Hoheitsrechte - auch, um zusammen auf internationaler Ebene an Gewicht, Stärke, Einfluss zu gewinnen. Diesen Grundgedanken der Integration hat der Stratege Jean Monnet entwickelt, ein Mitstreiter Schumans: Die Nationen übertragen freiwillig Kompetenzen an europäische Institutionen. Dieses Modell ist etwas anderes als das europaweite Reich eines Karls des Großen oder eines Napoleons, die imperiale Macht ausübten.
Die Montanunion ist der erste praktische Schritt in die neue Zeit. Schuman und Monnet verfallen nicht von ungefähr auf Kohle und Stahl, um ihr Prinzip der Übertragung einzelstaatlicher Zuständigkeiten auf europäische Instanzen zu erproben: Die für die Waffenproduktion entscheidenden Schlüsselindustrien werden nationaler Souveränität entzogen, "damit jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern unmöglich wird", so der Pariser Außenminister. Seit Jahrzehnten erweist sich die EU als Friedenszone zwischen den Mitgliedsländern.
Frankreich, die Bundesrepublik, Italien und die drei Benelux-Länder, die Staaten der EGKS, weiten 1957 mit den Römischen Verträgen über die EWG das der Montanunion innewohnende Prinzip auf das gesamte Wirtschaftsleben aus: Schrittweise gewinnt Brüssel immer mehr Einfluss auf die Wirtschaftspolitik in und zwischen den Nationen. Ein- und Ausfuhrzölle werden für immer mehr Waren abgestimmt und reduziert, die Handelsbeziehungen werden intensiviert, im Montan- und Agrarsektor wirde die nationale Subventionspolitik geregelt, der grenzübergreifende Geldverkehr wird erleichtert und manches mehr. 1979 wird das Europäische Währungssystem (EWS) mit festen Wechselkursen installiert, hinzu kommt der ECU als Europäische Rechnungs- und Währungseinheit.
In der Praxis entpuppt sich das hehre Prinzip der Kompetenzübertragung auf die Gemeinschaft oft als Kuhhandel, als Gefeilsche beim Geben und Nehmen. Die europäische Subventionspolitik lässt Brüssel zur gigantischen Geldumverteilungsmaschine mutieren, die viele Begehrlichkeiten bei Lobbyisten weckt - eine gewisse Berühmtheit erlangen beispielsweise italienische Olivenbauern mit ihrem cleveren und nicht immer korrekten Ergattern von Zuschüssen. Für Touristen und Grenzlandbewohner bleiben bis zur Einführung des Binnenmarkts in den 90er- Jahren die zu gering bemessenen Zollfreigrenzen bei Genussmitteln wie Wein, Kaffee und Zigaretten ein ewiges Ärgernis.
"Nur als System eines flexiblen Interessenausgleichs konnte Europa funktionieren", bilanziert Löffler. Und die EWG übt eine wachsende Anziehungskraft auf viele Staaten aus, erweist sie sich doch zusehends als Wohlstandsgebiet. 1973 treten Dänemark, Irland und Großbritannien bei. Nach dem Ende ihrer diktatorischen Regimes werden auch Griechenland (1981) sowie Spanien und Portugal (1986) aufgenommen.
Ob Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing, ob Helmut Kohl und Francois Mitterrand: Mal mehr, mal weniger offensiv verfolgen die Staatenlenker immer auch den Gedanken, über das wirtschaftliche Zusammenwachsen zudem die politische Integration zu vertiefen. Nach und nach gewinnt die EWG Kompetenzen auch auf Feldern wie etwa der Sozial-, Umwelt und Regionalpolitik. 1985 kommt es zum Schengener Abkommen, das Schritt für Schritt den Abbau der Grenzkontrollen vorsieht - was lange dauern sollte und auch heute noch nicht völlig verschwunden ist. Gleichzeitig ebnet Schengen einer engeren Kooperation von Polizei und Strafverfolgungsbehörden den Weg, was bereits weit gediehen ist: Demnächst werden selbst Bußgelder im Straßenverkehr grenzübergreifend eingetrieben, und künftig werden alle EU-Bürger mit biometrischen Merkmalen in Pässen erfasst - Orwell lässt grüßen. Die Ausdehnung der Brüsseler Zuständigkeiten schlägt sich in Begriffen nieder: Aus der EWG wird die EG, die Europäische Gemeinschaft, und1992 im Maastricht-Vertrag die Europäische Union.
Trotz fortschreitender Integration ändert sich seit der Schuman-Erklärung von 1950, der Montanunion 1952 und den Römischen Verträgen von 1957 bis Mitte der Achtziger an der EWG im Kern nichts. Klaus Löffler: "Erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte findet wieder ein Quantensprung statt". Mit dieser 1985 von den Regierungschefs beschlossenen und 1987 in Kraft getretenen EEA, ein kaum noch bekanntes Wort, werden erstmals die Gründungsverträge erneuert: Die EWG-Länder kommen überein, bis 1992 einen echten Binnenmarkt zu verwirklichen. Zu dieser vor allem von Jacques Delors betriebenen Idee gehört auch das Projekt des Euro. Den Fahrplan zur einheitlichen Währung arbeitet Delors bis 1989 aus. Damit widerspricht Löffler der These, Kohls Ja zum Euro sei der Preis für die Zustimmung der EU-Partner zur Wiedervereinigung gewesen.
Nicht nur die ökonomische und politische Entwick-lung der EU wurzelt in den Fünfzigern. Angelegt wird seinerzeit auch das Dreieck aus Kommission, Parlament und dem unter dem Begriff "Rat" firmierenden Verbund der Regierungen - die Runde der nationalen Kabinettschefs oder Fachminister hat wie in den Anfangsjahren nach wie vor das letzte Wort. Formell inthronisiert wird der "Europäische Rat" als regelmäßig tagendes Forum der Staats- und Regierungschefs 1974. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (1952) und der Europäische Rechnungshof (1977) arbeiten ebenfalls seit Jahrzehnten.
Jean Monnet ist es, der bereits 1952 als erster Präsident der "Hohen Behörde" der Montanunion die Tradition der Brüsseler Kommission begründet. Dieses Exekutivorgan der EWG wird mit den Römischen Verträgen aus der Taufe gehoben, das auch zuständig ist für die ebenfalls 1957 beschlossene Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Der Deutsche Walter Hallstein wird 1958 zum ersten Präsidenten der Kommission berufen, deren Mitglieder als "Technokraten" unabhängig von nationalen Interessen agieren sollen. Im Geflecht der jetzigen EU-Organe obliegt es in der Regel der Kommission, den im Rat vertretenen Regierungen und der Straßburger Volksvertretung Gesetzesvorschläge zur Entscheidung zu unterbreiten.
Auch die parlamentarische Tradition der EU beginnt 1952 mit der Montanunion. Der EGKS wird die bloß beratende "Gemeinsame Versammlung" unter dem Vorsitz Paul-Henri Spaaks beigegeben, in der Abgesandte aus den nationalen Abgeordnetenhäusern sitzen. Mit Rom 1957 wird diese Deputiertenkammer für die EWG zuständig, als erster Präsident amtiert Robert Schuman. 1962 tauft sich die Versammlung in "Europäisches Parlament" um - für Löffler "ein erstes Zeichen politischen Selbstbewusstseins". Viel mehr als ein Debattierclub, der "Empfehlungen" aussprechen kann, ist sie freilich nicht - auch wenn man sich im Laufe der 70er-Jahre und noch stärker in den 80ern gewissen Einfluss gegenüber Kommission und Rat erkämpft, so bei der Etatpolitik.
Die Direktwahl 1979 markiert für die Parlamentarisierung der Gemeinschaft eine Zäsur: Erstmals dürfen die Bürger auf europäischer Ebene selbst mitbestimmen, und in Straßburg tummeln sich seither Abgeordnete aus eigenem Recht auf der Basis eines Wählervotums. Präsidentin wird die Französin Simone Veil. Der Erwartungsdruck in der Öffentlichkeit ist damals enorm. Allerdings ändert sich an den bescheidenen Mitbestimmungskompetenzen der Straßburger Volksvertreter vorerst nichts: "Zwangsläufig stellten sich bei den Bürgern Frust und Enttäuschung ein", meint Löffler. Erst mit Maastricht erhält das Parlament echte Mitentscheidungsrechte bei der EU-Politik: Gesetzesinitiativen kann das Abgeordnetenhaus noch nicht starten, aber Kommission und Rat sind auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen.
Die deutsche Wiedervereinigung beschert der Straßburger Kammer eine historisch einmalige und skurrile Situation. Mit dem 3. Oktober 1990 gehören auch die neuen Bundesländer der Brüsseler Gemeinschaft an. Parlamentarisch vertreten werden die ostelbischen Bürger bis zur Direktwahl 1994 von einigen Mitgliedern der im März 1990 demokratisch gewählten DDR-Volkskammer. So machen für einige Jahre in Straßburg Abgeordnete Politik als Abgesandte eines Staats, der längst zu existieren aufgehört hat. Die Geschichte der EU birgt manche Anekdoten in sich.
Karl-Otto Sattler arbeitet als freier Journalist in Berlin.