Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt stellte historische Weichen der Entspannung
Am 13. August 1961 sind die Grenzen dicht. Ost-Berlin riegelt ab. Die Spaltung Berlins wird mit Betonpfählen und Stacheldraht besiegelt, Truppen der Volksarmee marschieren entlang der Sektorengrenze auf. Willy Brandt ist in jenen Tagen Regierender Bürgermeister von West-Berlin. Die ganze Welt blickt auf die Stadt, während Brandt mit der alliierten Kommandantura über das weitere Vorgehen verhandelt, gleichzeitig ein Blutbad unter den aufgebrachten Bürgern verhindert. Der spätere Bundeskanzler inmitten der Krise - es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet er, der die bedrohliche Situation in der zerrissenen Stadt erlebte wie kaum ein anderer, nur acht Jahre später die Weichen für eine neue Ostpolitik stellte und eine schrittweise Annäherung der verfeindeten Blöcke herbeiführte. Ohne Willy Brandt, den Arbeitersohn, der schon mit 18 Jahren in die SPD eingetreten und 1933 vor den Nazis ins Exil nach Norwegen geflohen war, wären die Überwindung des Kalten Krieges und die Deutsche Einheit 1990 nicht möglich gewesen. 1971 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen.
Schon von 1966 bis 1969, damals noch als Außenminister der Großen Koalition, hatte er sich um eine Normalisierung der Beziehungen mit dem Osten bemüht, beispielsweise indem er die Einrichtung von Handelsvertretungen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn durchsetzte. Doch eine Abkehr von der damals noch praktizierten Politik der strikten Abgrenzung zur DDR war unter Kanzler Kiesinger und dessen Vorgängern Adenauer und Erhard noch nicht denkbar. Nur durch Nichtanerkennung, glaubte man, könne die Einheit Deutschlands überhaupt wieder hergestellt werden. Zwar hatte auch Konrad Adenauer im September 1955 in Moskau der Herstellung offizieller diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion zugestimmt und so erreicht, dass zahlreiche deutsche Kriegsgefangene aus der UdSSR heimkehren konnten, hatte auch Ludwig Erhard 1963/64 eine Intensivierung der Handelsbeziehungen mit einigen osteuropäischen Staaten bewirkt: Die DDR jedoch erkannte der eine wie der andere nicht als eigenständigen Staat an, weil sie nicht aus freien Wahlen hervorgegangen war. Diese Haltung manifestierte sich in der 1955 verabschiedeten Hallstein-Doktrin, jener deutschlandpolitischen Leitlinie, die bis Ende der 60er-Jahre die Bonner Politik bestimmte und in der die Bundesrepublik auf ihrem Alleinvertretungsanspruch für Deutschland bestand. Jedem Land, das mit der DDR diplomatische Beziehungen aufnahm, drohte sie mit Sanktionen.
Willy Brandt und sein Parteifreund Egon Bahr lehnten die Hallstein-Doktrin und die damit verbundene Abgrenzungspolitik ab. Schon Anfang der 60er-Jahre entwickelten sie neue außenpolitische Leitgedanken, mit denen sie die Basis für die später so erfolgreiche Ostpolitik legten. Was diese Konzepte beinhalteten, führte Bahr am 15. Juli 1963 in seiner viel beachteten Rede vor der Evangelischen Akademie in Tutzing aus. Darin entwarf er eine Deutschlandpolitik, die er mit dem mittlerweile geflügelten Wort des "Wandels durch Annäherung" charakterisierte: Anzustreben sei ein "Prozess mit vielen kleinen Schritten und Stationen", sagte er da, ein Prozess, der auch die Interessen der anderen Seite berücksichtigen müsse.
Das war neu in einer Zeit, in der die führenden westdeutschen Politiker ihre Ignoranz gegenüber dem östlichen Staatengebilde schon verbal zum Ausdruck brachten, indem sie den Begriff "DDR" erst gar nicht in den Mund nahmen. Bewusst abwertend sprachen sie von Ost-Berlin, "Pankow" oder der "Ostzone".
Doch auch die DDR war nicht auf Versöhnungskurs. Argwöhnisch lauschte sie den Ausführungen Bahrs, die DDR-Außenminister Otto Winzer als "Aggression auf Filzlatschen" abtat. Die DDR hielt an ihrem Ziel der völkerrechtlichen Anerkennung fest.
Daran änderte sie zunächst auch nichts, als die SPD 1969 die Bundestagswahl gewann und Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung den deutschlandpolitischen Richtungswechsel verkündete. Erstmals bekannte sich eine Bundesregierung zur Zwei-Staaten-Theorie, mit der Einschränkung, dass diese beiden deutschen Staaten "füreinander nicht Ausland" sein könnten. Die Wiedervereinigung wollte auch sie nicht aus den Augen verlieren: "Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, dass das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird".
Vordenker und Stratege dieser Entspannungspolitik war Egon Bahr, der langjährige Weggefährte Brandts. 1960 hatte Brandt den Journalisten zum Leiter des Berliner Presse- und Informationsamtes berufen, 1969 folgte er dem Kanzler als Staatssekretär ins Kanzleramt und wurde zum Architekten der Ostverträge.
Erste Schritte in Richtung dieser Vertragsverhandlungen unternahm Brandt kurz nach seinem Amtsantritt mit der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags. Nur so war es möglich, mit der Sowjetunion über einen deutsch-sowjetischen Gewaltverzicht zu verhandeln. Die UdSSR war das Zünglein an der Waage für die Befriedung des Ost-West-Konfliktes. In der "Breschnew-Doktrin" von 1968 war "die begrenzte Souveränität sozialistischer Länder" im sowjetischen Einflussbereich unmissverständlich niedergeschrieben.
Im August 1970 kam es zum ersten Vertragsabschluss. Brandt, der sowjetische Ministerpräsident Kossygin und die beiden Außenminister unterzeichneten den "Moskauer Vertrag über Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen". Die Bundesrepublik gab ihren Alleinvertretungsanspruch und das Recht auf, für alle Deutschen und damit auch für die DDR zu sprechen, und erkannte damit erstmals den anderen deutschen Staat ausdrücklich an, faktisch auch die Oder/Neiße-Grenze.
Während die Sowjetunion dieses Entgegenkommen feierte, waren die Polen enttäuscht. Zwar waren sie beruhigt, ob der Anerkennung ihrer Westgrenze, wollten das aber in einem eigenen Vertrag festschreiben lassen. Im Dezember 1970 reiste Willy Brandt nach Polen, um den "Warschauer Vertrag" abzuschließen. Bei einer Kranzniederlegung am Mahnmal für den Warschauer Ghetto-Aufstand fiel er auf die Knie und verharrte lange in dieser Haltung. Das Foto der versöhnlichen Geste ging um die Welt.
Die DDR aber ließ von ihrer Forderung der völkerrechtlichen Anerkennung nicht ab. Brandt hatte früh erkannt, dass ein weiteres Abkommen notwendig sein würde, um die DDR zur Annäherung zu bewegen. Er hatte im März 1970 die Westmächte zu eigenen Verhandlungen mit den Sowjets gedrängt, um eine Verbesserung der Lage in Berlin zu bewirken. Im Vier-Mächte-Abkommen vom September 1971 garantierten die Sowjets den zivilen deutschen Verkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik verzichtete auf demonstrative Akte in Berlin, wie Sitzungen von Bundesrat, Bundestag oder die Bundesversammlung zur Bundespräsidentenwahl.
Angesichts der Annäherung zwischen der Sowjetunion und den Westmächten konnte sich die DDR einem Kompromiss nicht mehr verschließen, wollte sie nicht die Isolation im eigenen Lager riskieren. Im Dezember 1972, zwei Monate nachdem die SPD-FDP-Koalition bei den Bundestagswahlen eindrucksvoll bestätigt worden war, kam es zur Unterzeichung des wichtigsten Staatsvertrages zwischen der DDR und der Bundesrepublik bis zum Einigungsvertrag 1990: des "Vertrags über die Grundlagen der Beziehungen zwischen DDR und der Bundesrepublik". Man einigte sich auf den Aufbau gutnachbarlicher Beziehungen, Gewaltverzicht und eine Zusammenarbeit "zum beiderseitigen Vorteil". Ein Beispiel dafür war die Einführung des "kleinen Grenzverkehrs", der im Westen Erleichterungen für Besuche von Familienangehörigen in der DDR schuf. Beide Staaten stellten fest, dass sie füreinander kein Ausland seien und sie anstelle von Botschaftern "Ständige Vertreter" in die Hauptstädte entsenden wollten. In dem von der Bundesregierung dem Grundlagenvertrag beigefügten "Brief zur deutschen Einheit" bekräftigte sie allerdings ihr Ziel, "auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt".
Nachdem beide Staaten ihre Beziehungen zueinander auf ein stabileres Fundament gestellt hatten, war auch der Weg frei für ihre verstärkte internationale Einbindung: Am 18. Dezember 1973 wurden beide Staaten, "unbeschadet ihrer besonderen Beziehungen" in die UNO aufgenommen. Am 1. August 1975 waren sie gleichberechtigte Mitunterzeichner der KSZE-Schlussakte in Helsinki. Nach zweijährigen Verhandlungen auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) garantierten sich darin die sieben Staaten des Warschauer Paktes, die 15 NATO-Staaten und 13 neutralen Länder die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen, die friedliche Regelung von Streitfällen, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten sowie die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Im Osten fand Willy Brandt dafür Bewunderung, denn während sich gegen dessen Politik im Westen heftiger Widerstand regte, sah sich die Staats- und Parteiführung der DDR im Sommer 1972 mit einem unliebsamen Umfrageergebnis konfrontiert. 80 Prozent der DDR-Bürger sympathisierten mit Brandt und seiner Politik.
Den Jahren des "Wandels durch Annäherung" folgte die Stagnation. Brandt äußerte seine Besorgnis in einem Gespräch mit Sowjetbotschafter Falin: "Wir stehen unter dem Eindruck, dass die DDR seit ihrem Beitritt zur UNO kaum noch geneigt ist, irgendwelche Anstrengungen zu machen, um zu einer Normalisierung mit der Bundesrepublik Deutschland zu kommen." Zeit, etwas daran zu ändern, hatte der Kanzler nicht mehr. Im Mai 1974 trat er wegen der Affäre um den DDR-Spion Guillaume zurück.
Johanna Metz ist Volontärin bei "Das Parlament".