Wie sich die Debatte um Flucht und Vertreibung veränderte
Bis weit in die 1950er-Jahre waren die Themen Flucht und Vertreibung in der westdeutschen Öffentlichkeit sehr präsent: Erstens stellte die Integration von zwölf Millionen Heimatlosen ein großes Problem auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt dar, zweitens eigneten sich die Schicksale von Vertriebenen ebenso wie die von Kriegsgefangenen, Ausgebombten oder Entnazifizierten für ein Selbstbild, in dem sich ganz (West) Deutschland als Opfer begreifen wollte. Kurze Zeit existierte mit dem Bund der Heimatlosen und Entrechteten (BHE) auch eine Partei, die die Interessen der Vertriebenen vertrat und als Koalitionspartner in der Adenauer-Ära wichtig war.
Ein deutlicher Wandel der Bedeutung und Selbstwahrnehmung trat hingegen ein, als die Vertriebenen materiell im Wesentlichen integriert waren und Linke und Liberale von der Väter-Generation Rechenschaft über ihr Verhalten während der Nazi-Diktatur forderten. In einer pauschal zur "Täternation" erklärten Gesellschaft erschien der Verlust der Ostgebiete als gerechte Strafe für die Verbrechen des NS-Regimes. Wer in den 70er- und 80er-Jahren an das Leiden von Deutschen erinnerte, wurde in der Regel zum Ewiggestrigen erklärt, der die Aussöhnung mit den Nachbarn verweigere, der polnischen Westgrenze seine Anerkennung versage und deutsche Schuld weiterhin relativiere. An die Stelle der einseitigen Schuld-Leugnung trat die einseitige Fokussierung auf deutsche Schuld. Statt die Geschichte von Flucht und Vertreibung in einen neuen politischen und historischen Kontext zu betten, wurde das Thema insgesamt diskreditiert und seine Interpretation allein der Rechten beziehungsweise den Vertriebenenverbänden überlassen.
In Ostdeutschland war die Geschichte der Vertriebenen bereits bei Kriegsende aus Rücksicht auf die neuen Verbündeten aus dem öffentlichen Raum verbannt worden; ab 1946 durfte auf Anweisung der Sowjetischen Militäradministration nur noch von "Umsiedlern" gesprochen werden.
Seit der Wiedervereinigung vollzieht sich nun - gemeinsam in Ost und West - ein erneuter Wandel im kollektiven Erinnern, da spätestens Günter Grass mit seinem Roman "Im Krebsgang" das Thema auch für viele Linke und Liberale wieder rehabilitiert hat: An die Stelle der bisher eindimensionalen Bilder tritt seitdem die Erinnerung an Schuld und Leiden von Deutschen, an Verbrechen von Deutschen und Verbrechen an Deutschen - und eingeordnet in den historischen Rahmen findet das "Menschenrecht auf Erinnerung" (Aleida Assmann) wieder seinen Platz.
Mochten sich Westdeutsche nach 1968 nämlich auch in einem "Sündenstolz" eingerichtet haben und sich die Ostdeutschen - scheinbar entgegengesetzt - mit der offiziellen Antifaschismus-Doktrin entschuldet sehen, so war beiden doch die Abwehr der persönlichen Betroffenheit gemein. Schuld waren immer die anderen - auch im Westen war der eigene Opa nie der Nazi -, und auch die Scham nistete nie in der eigenen Familie - wer wollte denn wissen von der Vergewaltigung der Mutter? Nun scheint es, als kehre die "Große Geschichte" in die Familiengeschichte zurück.
Getragen wird die augenblickliche Erinnerungswelle vor allem von der zweiten Generation, den heute 60-75jährigen, die - zum Teil noch im Krieg geboren - keinen aktiven Anteil mehr an ihm hatten, sondern seine Objekte und Opfer wurden. Mehrere Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein:
In ihrem Prozess des Erinnerns und Aufarbeitens geht es der zweiten (und teilweise schon der dritten) Generation nicht um die Schaffung einer neuen Opfermythologie, sondern um die Klärung von Identität: um die Aufdeckung oft ungelöster Schuld- und Schamkomplexe der Elterngeneration, die sich auf die Kinder übertragen haben, um die Suche nach den Ereignissen, die Angst, Einsamkeit, mangelndes Selbstvertrauen ausgelöst oder verstärkt haben. Auch geht es um Trauer und die Integration bisheriger, oft krank machender Verdrängungen, so dass ein bewusster Umgang mit ihnen möglich wird. Die Diskussion über das kollektive Erinnern, bisher vor allem geführt als eine Frage der politischen Moral, erweitert sich um eine psychologische, menschenrechtliche, universale Dimension.
Insofern bedeutet die neue Sensibilität in Deutschland für die Opfer von Bombenkrieg und Vertreibung keinen Paradigmenwechsel, sondern eine Ergänzung jenes kollektiven Gedächtnisses, das in Jahrzehnten unter Mühen ein Ja zur eigenen Schuld und zu eigenem Versagen entwickelt hat.
Die Veränderungen im kollektiven Bewusstsein der Deutschen führen zu Reibungen mit dem kollektiven Bewusstsein unserer Nachbarn. Solange sich die Deutschen ausschließlich als "Tätervolk" begriffen, und Polen und Tschechen als Opfer, ergänzten sich ihre Selbstbilder. Seitdem sich auch Deutsche als Opfer von Krieg und NS-Regime sehen, äußern Polen und Tschechen die Befürchtung, die Geschichte solle auf den Kopf gestellt, Deutsche nach den Juden zu den größten Opfer des Zweiten Weltkriegs stilisiert und Polen und Tschechen als Täter angeprangert werden.
Mögen diese Ansichten noch verständlich sein, wenn sie von ehemaligen KZ- oder Getto-Insassen stammen, weil sie eine Wiederholung ihrer traumatischen Erlebnisse fürchten, so demagogisch und verantwortungslos sind sie aus dem Mund nationalistischer Politiker und Journalisten unter den Nachgeborenen. Statt ihre Landsleute zu überzeugen, dass das heutige Deutschland geläutert ist und Ängste vor neuem Revanchismus oder Geschichtsklitterung unbegründet sind, wurde vor allem in Polen die stereotype Vorstellung vom deutschen Erbfeind reaktiviert, um die dringend erforderliche Auseinandersetzung mit den eigenen Schattenseiten in der Geschichte zu umgehen.
Polen und Tschechen haben nicht nur ausgeführt, was ihnen von den Alliierten in Potsdam diktiert wurde. Es gab "wilde" Vertreibungen in der Tschechoslowakei und Polen vor der Potsdamer Konferenz; es gab Internierungslager, Zwangsarbeit und Enteignungen von Deutschen in Polen und der Tschechoslowakei, die keine alliierte Siegermacht verlangt hat, und es gab im kommunistischen Polen und der kommunistischen Tschechoslowakei eine Unterdrückung der deutschen Minderheitenkultur, die erst mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989 endete. Für diese und andere Repressionen tragen allein diese Staaten die Verantwortung.
Statt allerdings darum zu streiten, welches Volk welchen Platz in einer Opferhierarchie einnimmt, sollten wir uns bewusst machen, dass das Leiden hier wie dort seine Ursache in einem aggressiven Nationalismus hatte, dessen Ziel ethnisch homogene Nationalstaaten waren. Statt den ebenso vergeblichen wie schädlichen Versuch zu unternehmen, Leiden aufzurechnen und die Völker damit gegeneinander zu treiben, sollten wir übernational eine Allianz all jener bilden, die zwangsweise Assimilierung, Vertreibung, Zwangsumsiedlung oder Bevölkerungsaustausch als Mittel der Politik missbilligen, den Schutz nationaler Minderheiten fordern und das Leiden aller Individuen respektieren - ungeachtet ihrer Nationalität.
Die Verständigung auf gemeinsame Werte ist im vereinten Europa unerlässlich, der Versuch, ein gemeinsames Gedächtnis zu konstruieren, hingegen einengend und verzerrend. Es gibt kein gesamteuropäisches Erinnern: Für die Juden bedeutete das Kriegsende zweifellos eine Befreiung, für die Deutschen überwiegend eine Niederlage und für Balten und Polen der Beginn einer neuen Unterdrückung. Ähnlich hat auch die Vertreibung für Deutsche einen anderen Stellenwert als beispielsweise für Polen. Statt eines Zentrums gegen Vertreibungen, was angesichts der Deportationen von Hunderttausenden nach Sibirien 1939/40 und der Zwangsumsiedlungen in die ehemals deutschen Ostgebiete 1945 denkbar war und ist, hat Polen unlängst ein Museum über den Warschauer Aufstand gebaut - vor allem in diesem heroischen Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit sehen die meisten Polen den Kern ihres nationalen Selbstverständnisses. Und da Museen und Gedenkstätten vergegenständlichte historische Interpretationsmuster sind, mit deren Hilfe sich kollektive Identitäten entwickeln und festigen, gilt es ihren spezifischen Ausprägungen Rechnung zu tragen, wenn die Völker sich verwurzelt fühlen sollen.
Gleichzeitig aber sollten wir in Europa zunehmend eine gemeinsame Gedenkkultur entwickeln, weil sie den Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft trotz aller historischen Belastungen zum Ausdruck bringt: allerdings nicht indem wir Geschichte einebnen oder auf die Geschichte der großen Staaten reduzieren, sondern indem wir auch und gerade den bitteren Erfahrungen kleinerer oder wenig beachteter Völker wie etwa den Letten, Esten, aber auch Polen oder Ukrainern Rechnung tragen.
Helga Hirsch arbeitet als freie Journalistin und Publizistin in
Berlin.