Die außenpolitischen Strategien der Europäischen Union
Bis dahin durchlief Westeuropa eine Formierungsphase, die zur Bildung der "Zivilmacht Europa" führte. Sie basierte auf den in den 1950er-Jahren getroffenen bündnis- und integrationspolitischen Entscheidungen, die der Devise folgten "Sicherheit vor der Sowjetunion und vor Deutschland durch politische, militärische und wirtschaftliche Integration Westdeutschlands". Der Versuch, die politische und militärische Integration innerhalb Westeuropas umzusetzen, scheiterte allerdings. Sowohl das Projekt einer integrierten Europäischen Politischen Gemeinschaft als auch das einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft erwiesen sich angesichts der kriegerischen Vergangenheit der neuen Partner als verfrüht. Die militärische Sicherheit wurde folglich von der NATO (19949/55) gewährleistet, während sich der politische Zusammenschluss erst allmählich über praktische wirtschaftliche Kooperation und Integration im Rahmen der Montanunion (1951), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG (1957) und der Europäischen Atomgemeinschaft (1957) entwickelte.
Erste Bemühungen außenpolitischer Zusammenarbeit führten zu Beginn der 1970er-Jahre zur Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Diese informelle Abstimmung wurde durch die Einheitliche Europäische Akte 1986 formalisiert. Zudem erhielt der Rat erstmals Zuständigkeiten in politischen und wirtschaftlichen Sicherheitsfragen. Gleichwohl blieb die EG eine Macht, die sich durch den zivilen Charakter ihrer Mittel und Zwecke auszeichnete. Militärisch gestützte Machtpolitik blieb ihr fremd.
Das Ende des Ost-West-Konflikts markiert einen neuen historischen Wendepunkt, der die Entwicklung Europas im Innern wie im Äußeren beschleunigte. Die Vollendung des Binnenmarktes und der Wirtschafts- und Währungsunion mit der gemeinschaftlichen Währung, dem Euro, sowie die Erweiterungen von 1995 und 2004 waren entscheidende Schritte des "neuen" Akteurs EU, zu dem sich die "alte" EG seit dem Vertrag von Maastricht zu entwickeln begann. Darin wird auch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) vereinbart, die das Ziel hat, die gemeinsamen Werte der Union zu wahren, die Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten sowie die internationale Sicherheit zu stärken, den Frieden zu erhalten, die internationale Zusammenarbeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ebenso zu fördern wie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Allerdings mussten die EU in den 1990er-Jahren erfahren, dass es von der Proklamation hochtrabender außen- und sicherheitspolitischer Ziele bis zu ihrer praktischen Umsetzung ein weiter Weg ist. Insbesondere der Balkankrieg zeigte gnadenlos die Schwächen der EU auf, mit derartigen Gewaltkonflikten umzugehen. Die daraufhin erfolgte Reform der GASP durch den Vertrag von Amsterdam enthielt im Wesentlichen drei Neuerungen. Erstens wurde das Amt des Hohen Beauftragten für die GASP geschaffen. Zweitens wurde ihm ein Politischer Stab zur Seite gestellt, der sich mit politischer Planung und Frühwarnung befasst. Drittens wurden die so genannten Petersberg-Aufgaben - humanitäre und friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens - in den EU-Vertrag überführt. Damit wurde das Krisenmanagement offizieller Bestandteil der GASP.
Während des Kosovo-Konfliktes 1998/99 musste die EU erneut die Erfahrung machen, dass sie nicht in der Lage war, der aggressiven nationalistischen Politik Serbiens ein Ende zu setzen. Dieses Mal zogen die EU-Mitglieder die Schlussfolgerung, eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) aufzubauen. Damit die EU ihre Rolle auf der internationalen Bühne uneingeschränkt wahrnehmen kann, sollte sie mit den entsprechenden Fähigkeiten und Mitteln für die Konfliktverhütung und Krisenbewältigung ausgestattet werden. Insgesamt sollte das militärische und zivile Instrumentarium die Union in die Lage versetzen, autonom auf internationale Krisensituationen zu reagieren.
Sind die transatlantischen Beziehungen ein Kernelement des internationalen Systems, so ist die NATO ein wichtiger Partner für die Durchführung von EU-Krisenmanagementoperationen. Durch das 2003 in Kraft getretene Berlin-Plus-Abkommen kann die EU auf Mittel und Fähigkeiten des Bündnisses zurückgreifen, wie es zum Beispiel seit Dezember 2004 in Bosnien geschieht. Wenn die EU gleichwohl auch eigenständige Operationen durchführen können will (wie bereits im Kongo geschehen), so geht es nicht um die Durchsetzung nationaler Interessen durch Krieg, sondern um zeitlich begrenztes Krisenmanagement auf der Grundlage der geltenden internationalen Ordnung.
Allem Anschein nach entwickelt die EU ein neues außen- und sicherheitspolitisches Leitbild, das als Leitbild "Friedensmacht" bezeichnet werden kann. Diese Friedensmacht ist weder ein ausschließlich auf zivile Mittel setzender Akteur, noch verfolgt sie im Stile und mit den Mitteln einer klassischen Großmacht militärische Machtpolitik. Vielmehr ist sie ein internationaler Akteur, der die ganze Palette seiner Fähigkeiten für die Prävention und konstruktive Bearbeitung von Gewaltkonflikten im Rahmen internationaler Governance-Strukturen einbringt.
Im Gegensatz zu den Modellen der Zivil- und der Militärmacht verfügt die Friedensmacht nicht nur über zivile und militärische Macht, sondern sie hat die völkerrechtlich konforme Bewahrung oder Wiederherstellung von Frieden mittels einer integrierten Sicherheitspolitik zum Ziel, in deren Mittelpunkt die menschliche Sicherheit steht. Sie ist also normativ und funktional gebunden. Dementsprechend nennt Artikel I-3 des Verfassungsvertrages als Ziele der Union einen Beitrag zu leisten "zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechten Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen".
Auch wenn vieles der außenpolitischen Programmatik der EU noch der Umsetzung harrt, ist doch die Hinwendung zum Modell einer Zivilmacht à la EG oder zu dem einer Militärmacht à la USA unrealistisch. Der veränderte globale Kontext, die Qualität der internationalen Herausforderungen und die komplexe Struktur der EU erfordern es vielmehr, den Weg in Richtung einer globalen Friedensmacht fortzusetzen und so einen europäischen Beitrag zur Entstehung einer neuen Weltordnung zu leisten.
Dr. Hans-Georg Ehrhart arbeitet am Institut für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität
Hamburg.