Was wir aus dem Zweiten Weltkrieg lernen sollten
Jede Gesellschaft ist zur Hysterisierung fähig, sowie sie sich auf ein kollektives Bedrohungsszenarium verständigt, das sich an einem konkreten Anlass entzündet, aber sogleich zur Generalisierung führt und Abwehrreflexe mobilisiert. Zumal dann, wenn ein innerer Zerfall droht, dient ein äußeres Bedrohungsszenarium der inneren Stabilisierung, zumeist verbunden mit dem Abbau demokratischer Freiheitsrechte. Wegen des gemeinsamen Kampfes gegen "den Feind" müssten sie eben eingeschränkt werden.
Zudem müsste die Wachsamkeit der Gesellschaft verstärkt werden, denn der innere Feind arbeitete mit dem äußeren zusammen oder sei gar dessen fünfte Kolonne. Wer da anfängt, zu differenzieren, macht sich angeblich der Verharmlosung schuldig. Wer der Vereinfachung entgegentritt, stört das nationale Volksempfinden, wird unpatriotischer, vaterlandsverräterischer beziehungsweise antiwestlicher oder antikommunistischer Gesinnungen bezichtigt.
Feindbilder gehören zur Munitionierung eines Gemeinwesens, das sich von anderen abzusetzen und durch den Kampf gegen andere seine Stärke zu gewinnen sucht. Der Tod der Feinde ist stets ein gerechter Tod, bis hin zum zeitlich und räumlich unbefristeten Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen". Dieser Feind liefert seine abschreckenden Bilder und Symbole zur Bestätigung des Bildes, das man selber brauchte. Man denke nur an Nordkorea oder den Iran.
Grundmuster, typische Merkmale des Feindbildes, sind immer wieder Misstrauen, Schuldzuweisung, negative Antizipation, Identifikation mit dem Bösen, De-Individualisierung und jegliche Empathie-Verweigerung. Hinter allem steht eigene Unsicherheit und Unfähigkeit, Identität positiv zu konstituieren. Wer sich nicht positiv definiert, muss sich negativ konstituieren und nach außen verlagern, was man an sich selber nicht ertragen kann. In der Feindbildproduktion kulminieren Identitäts-, Projektions- und Wahrnehmungsprobleme. Das gilt für Individuen wie für ganze Gesellschaften. Eine reife Gesellschaft, die auf das mündige Individuum, auf Konsenssuche nach Regeln, auf Selbsterkenntnis und Einfühlung in Fremdinteressen bezogen bleibt, kann ohne Feindbilder existieren.
Max Frisch hatte in seiner Friedenspreisrede 1976 erklärt: "Eine friedensfähige Gesellschaft wäre eine Gesellschaft, die ohne Feindbilder auskommt. Es gibt Phasen, wo wir nicht ohne Auseinandersetzung auskommen, nicht ohne Zorn, aber ohne Hass, ohne Feindbild: wenn wir (einfach gesprochen) glücklich sind oder zumindest lebendig ... und durch eine Art des Zusammenlebens von Menschen, das Selbstverwirklichung zulässt. Freiheit nicht als Faustrecht für den Starken, Freiheit nicht durch Macht über andere. Selbstverwirklichung oder sagen wir: wenn es möglich ist, kreativ zu leben. Noch immer sind wir weit davon entfernt, noch immer hoffen wir und glauben an die Möglichkeit des Friedens. Dies bleibt ein revolutionärer Glaube." Voraussetzung für den Frieden ist weiterhin der Abbau von Feindbildern, der unermüdliche Versuch, die Ursachen von Feindschaften auszuräumen und gemeinsam mit der Stärke des Rechts gegen die zu stehen, die auf der Klaviatur von Gewalt, destruktiver Stärke, Überlegenheit, Omnipotenz- phantasien oder religiös-apokalyptischen Zerstörungsszenarien leben.
Eine Gesellschaft, die kein lohnendes gemeinsames Ziel mehr benennen kann, muss wenigstens einen Feind haben und im Kampf gegen diesen einig sein und alle Kräfte mobilisieren. Wer da kritisch rückfragt, wird leicht als (unbewusster) Agent des Feindes denunziert oder mindestens verdächtigt, jenem "objektiv" in die Hände zu arbeiten, ihm vorwerfend, er würde die Gefahr verharmlosen und mache sich mitschuldig an künftigem Unglück.
Wer 40 Jahre im kommunistischen System gelebt hat, kennt diese Mechanismen und ist nur etwas verwundert darüber, wie strukturparallel solche Vorgänge offensichtlich selbst in demokratischen Gesellschaften ablaufen. Die Strategie besteht stets darin, dem Gegner alles zu unterstellen, was böse ist und sich selbst auf der Seite "der Guten" zu sehen.
Es werden eiligst Etiketten verteilt: Wer gegen Bush ist, wird des Antiamerikanismus verdächtigt. "Dahinter" werden alte Vorurteile vermutet, die auch noch antisemitische Anteile hätten. Wer will da nicht eiligst beteuern: Nein, nein, nein, ich weiß, was wir Amerika verdanken und wie existentiell diese Freundschaft für uns war und ist … Eine wirkmächtige nachwirkende Kampfparole gab Donald Rumsfeld mit dem Diktum "altes Europa" aus, dass man doch eigentlich abschreiben könne. Monatelang schien - glaubt man den Zeitungen - die deutsche Politik um einen Händedruck zu betteln. Aber Freundschaft sieht anders aus, es sei denn, sie bedeute Gefolgschaft. Wenige reagieren so souverän wie Peter Zadek, wenn sie nach ihrem Antiamerikanismus gefragt werden. "Bush hat bei seinem Feldzug im Irak die Mehrheit der Amerikaner hinter sich. Man darf also durchaus gegen die Amerikaner sein, so wie im Zweiten Weltkrieg der größte Teil der Welt gegen die Deutschen war. In diesem Sinne bin ich Antiamerikaner" (Spiegel 29/03).
Aber lässt sich mit so einem Vergleich eine ideologisch aufgeladene Debatte versachlichen? Und müsste man dann nicht auch "Antirusse" werden, wenn man die Zustimmung in Russland zu Putins Tschetschenienpolitik betrachtet - und was vernebelt da eine Männerfreundschaft, die weniger Menschenrechte als vielmehr deutsche Interessen im Blick hat? Präsident Putin agiert, in geradezu zaristischer Manier, nach innen mit harter Hand und Präsident Bush ist weit davon entfernt, zu spüren, wie sehr er, mit seinem Denken einstigen und heutigen Gegnern zu gleichen anfängt, indem er manichäisches Denkmuster von Gut-Böse, Wahr-Falsch, Freund-Feind adaptiert, das schließlich aus dem persischen Raum stammt. Geradezu verheerend wirkte sein Diktum: "Wer nicht mit uns ist, der ist mit den Terroristen". Da gibt es nur noch ein Ja-Nein, ein Freund-Feind! Wer amerikanische Bush-Politik kritisiert, wird flugs des Anti-Amerikanismus verdächtigt. Wer Sharons Siedlungspolitik in der Westbank oder die Vergeltungsübergriffe in Dschenin kritisiert, riskiert den Antisemitismusvorwurf. Wer Großunternehmer kapitalismuskritisch aufs Korn nimmt, ist mindestens ein Kommunist.
Kommunisten kannten dieses Muster auch und spielten darauf mit der Leninischen Drohfrage: Wer - Wen? Das ideologisch untermauerte Feindbild vom aggressiven Imperialismus konnte alles rechtfertigen. Ein festgezurrtes Feindbild vereint angst- oder machtvoll, lässt jedwede Aktionen stets politisch-strategisch stimmig und im Volke zustimmungsfähig werden. Unsere demokratischen Gesellschaften werden alles daran setzen müssen, nicht selber archaischen Freund-Feind-Schemen zu verfallen und so auf eine subtile oder grobe Weise in das Feindschema zurückzufallen, das Carl Schmitt zum Grundmuster jeder Politik erklärt hatte.
Es gilt indes, ganz nüchtern festzustellen, dass es Feinde gibt, denen eine demokratische offene Gesellschaft nicht passt und die ihre (terroristischen) Aktionen mit diversem ideologisch-religiösen Überbau garnieren. Demokratien, die sich auf die Verwirklichung der Allgemeinen Menschenrechte als einem ständig gefährdeten und zugleich lohnenden Ziel einlassen, muss daran gelegen sein, im Kampf gegen die Feinde ihres Gesellschaftsmodells nicht die Handlungsprinzipien ihrer Gegner allmählich zu übernehmen -, indem dies mit dem einzig wirksamen Kampf gegen den Feind gerechtfertigt wird.
Ein Feind kann dazu motivieren oder zwingen, besser zu sein als er. Um die Propaganda der Gegenseite im "Wettkampf der Systeme" zu entkräften, nötigte das kommunistische Weltsystem dem demokratisch-kapitalistischen Westen soziale Leistungen ab, die nun wieder einkassiert werden, nachdem diese Infragestellung weggefallen ist. Und die beiden letzten Golfkriege hätten wohl nicht stattgefunden, wenn es das Gleichgewicht des schrecklichen Schreckens noch gegeben hätte. Insbesondere die westliche Führungsmacht hat inzwischen ihre Führungs- und Vorbildfunktion so eingebüßt, dass Freiheits- und Menschenrechte zum missbrauchten Kampfbegriff geworden sind und das Völkerrecht dem Recht des Stärkeren im Ernstfall weichen muss.
Die Gefahr in jeder Auseinandersetzung mit einem "Feind" besteht darin, dass man sich ein Bild von ihm macht und alle, die ihm zugehören so sehr generalisiert beurteilt, dass die so Etikettierten tatsächlich so werden (müssen), wie man von ihnen denkt, - ohne noch zu merken, wie ähnlich man im Kampf mit dem Gegenbild diesem wird.
Der Kampf gegen "den Islam" als Kampf gegen islamistisch-aggressiven Fundamentalismus ist eine Gefahr für die Substanz unserer laizistisch beziehungsweise säkularen demokratischen Gesellschaften.
Brauchen wir wieder Feindbilder? Oder kämpfen wir gegen reale Feinde? Feindbildzertrümmerung ist eine zu jeder Zeit von allen abverlangte zivilisatorische Leistung - es sei denn, man bliebe sich einig in seinen Vor-Urteilen: die Amerikaner sind arrogant und geschmacklos, die Russen gefährlich und grob, Muslime fundamentalistisch und tendenziell terroristisch, die Ukrainer mafiös, die Wessis großfressig, die Ossis jammersüchtig, die Katholiken falsch, die Protestanten freudlos, die Politiker machtgeil, die Parteien opportunistisch, die Unternehmer gewinnsüchtig, die Gewerkschafter betonköpfig, die Militärs gewissenlos, Kommunisten unbelehrbar, Frauen sind… Männer sind… Türken sind… Journalisten sind… Nur wir selbst sind ganz in Ordnung!
Friedrich Schorlemmer ist Studienleiter an der Evangelischen
Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg.