Volksbefragung über den Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich
Jean-Philippe hat schnell wieder aufgegeben. In der Mitte der zweiten Spalte auf Seite eins hat der 37-jährige Internatsleiter aus dem französischen Norden alle Lust an der Lektüre verloren. Nun liegt die europäische Verfassung auf seinem Nachttisch. "Und ich denke nicht, dass ich da noch einmal rein gucken werde." Eine Verfassung liest sich eben nicht wie ein Krimi. Hunderttausenden von Haushalten hat die französische Regierung ein 239 Gramm schweres Buchpaket zugeschickt, in bester Absicht: Schließlich sollen die Bürger wissen, worüber sie abstimmen. Gratis liegt die Verfassung auch in den Postämtern aus. Und selbst in den Buchhandlungen finden kommentierte und erläuternde Verfassungstexte reißenden Absatz. "Der kleine Verfassungsführer", "Erklär' mir die Verfassung", "EU-Verfassung - was muss ich wissen?" - programmatische Titel wie diese stehen seit Wochen an der Spitze der meistverkauften Sachbücher in Frankreich.
Das Interesse ist hoch, auch wenn es wohl den meisten Lesern spätestens nach den ersten Seiten so gehen dürfte wie Monsieur Jean-Philippe. Im Vergleich zur eher technokratisch dröge formulierten EU-Verfassung nehmen sich das deutsche Grundgesetz oder die französische Verfassung tatsächlich wie packende Literatur aus. Freilich: Daran wird es nicht gelegen haben, wenn am 29. Mai tatsächlich eine Mehrheit der Franzosen "Non" zu diesem europäischen Vertragswerk sagen sollte. Die "Verfassungsfrage" spaltet längst auch die Familien. Bei Mitterands etwa hängt der Haussegen deshalb schief. Danielle Mitterrand, die 80-jährige Witwe des ersten sozialistischen Präsidenten im Nachkriegs-Frankreich, die schon immer einen eigenen Kopf zeigte, lehnt den Text nach immerhin gründlicher Lektüre wegen seiner "neoliberalen Vision" inzwischen ab. Mitterrands Sohn Gilbert wiederum wirbt öffentlich für das "Oui". Roland Dumas, Ex-Außenminister und einer der Weggefährten des verstorbenen Präsidenten, ist sich sicher: "Mitterrand hätte den Text genehmigt." Mit hohem persönlichen Einsatz hatte Mitterrand das Maastricht-Referendum 1992, wenn auch denkbar knapp, über die Hürden gehoben. Das verpflichtet.
Auf Mitterrands Spuren wollte offenkundig Amtsnachfolger Jacques Chirac wandeln, als er - ohne Not - im letzten Jahr eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung ansetzte. Es hätte ihm freigestanden, den Text parlamentarisch, etwa gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag, ratifizieren zu lassen. In diesem Fall wäre ihm eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit sicher gewesen. Und einmal mehr hätten beide Länder mit einer derart unbestreitbar symbolisch starken Geste ihre Rolle als europäische Gründerstaaten und jahrzehntelanger Motor des europäischen Wagens unterstreichen können. Nun ist das Referendum zur Zitterpartie für Europa, für Chirac, aber auch das deutsch-französische Tandem geworden.
Der Umfrage-Teufel, aber auch die geheiligte gaullistische Tradition des Landes hatten Chirac offenkundig auf die falsche Spur gelockt. Zum Zeitpunkt seiner Entscheidung signalisierten die Meinungsforscher eine mehr als 60-prozentige Zustimmung. Mittlerweile steht fest, dass der Präsident seine eigene Popularität ebenso überschätzte wie die Unbeliebtheit der Regierung unter Premier Jean-Pierre Raffarin.
Vielen Franzosen juckt es in den Fingern, die unpopuläre Regierung Ende Mai auch beim Europa-Referendum abzustrafen. Und dass unsere Nachbarn bei Plebisziten seit jeher gerne über Fragen abstimmten, die ihnen gar nicht gestellt wurden, ist ohnehin eine Binsenweisheit.
Vor allem unter den jüngeren Franzosen finden sich die höchsten Ablehnungsquoten. 66 Prozent der Angestellten bis 34 Jahre, 75 Prozent der Arbeiter zwischen 25 und 34 Jahren geben vor, am 29. Mai mit "Nein" stimmen zu wollen. Das ist Ausdruck der schlechten Stimmung im Land angesichts schwindender Kaufkraft und wieder steigender Arbeitslosigkeit. Jeder vierte Arbeitslose in Frankreich ist - anders als in Deutschland - unter 25 Jahren.
Wie groß die Kluft zwischen dem europäischen Pathos der Älteren und der europäisch ernüchterten Jugend ist, hat Frankreichs Präsident zudem selbst erfahren müssen. "Ich verstehe euch nicht", ließ er sich frustriert in einer Diskussionssendung mit 80 jungen Leuten zu einem aufschlussreichen Stoßseufzer hinreißen. Zudem heizen die Verfassungsgegner von rechts- und linksaußen die polemisch geführte Debatte mit aberwitzigen Behauptungen an. So solle die EU-Verfassung etwa die medizinische Gratis-Grundversorgung für Obdachlose verbieten, die Wiedereinführung der Todesstrafe ermöglichen, die Abtreibung kriminalisieren oder gar die 35-Stunden-Woche in Frage stellen. Selbst Frankreichs kulturelle Ausnahmestellung, auf die das Land zu Recht so stolz ist, solle im europäischen Einheitsbrei untergepflügt werden. Kein Gerücht ist zu absurd, um nicht doch geglaubt und weiter getragen zu werden.
Die gut organisierten Interessengruppen, die seit Monaten gegen die Verfassung trommeln, lassen sich ihren Widerstand mit viel Geld abkaufen. Zudem verfangen die Argumente des Präsidenten, der seine Landsleute nachdrücklich davor warnt, Frankreich international zu schwächen. So etwas zieht in Frankreich immer, auch wenn eine Mehrheit die Argumente der Verfassungsgegner nach wie vor für überzeugender hält.
Die Rückkehr des Polit-Rentners Lionel Jospin in die politische Arena hat zudem einen erkennbaren Meinungsumschwung an der sozialistischen Basis bewirkt. Kräftig hat Jospin seiner Partei ins Gewissen geredet, offensichtlich wirkungsvoll. Seither ist die Mehrheit für ein "Ja" laut einiger Umfragen auf inzwischen stattliche 56 Prozent gewachsen. Offenkundig wollen sich die traditionell pro-europäischen Sozialisten nicht nachsagen lassen, dass es ausgerechnet an ihnen gelegen hat, wenn das europäische Gründerland Frankreich dem vereinten Europa Ende Mai den Rücken kehrt.